Der Preis des Schweigens
sehr gefalle.
»In den letzten Jahren sind mir immer öfter Zweifel gekommen, ob du überhaupt noch etwas für mich empfindest. Du warst so gleichgültig mir gegenüber, allem gegenüber, Jen«, sagte er. »Nichts schien dich zu berühren, du warst nie wirklich sauer oder frustriert und hast nie geweint, aber auch nie richtig gelacht. Du hast auf alles so cool reagiert, so ruhig und logisch, dass ich immer den Eindruck hatte, unsere Beziehung wäre nur ein Probedurchlauf, eine Prüfung, durch die ich immer wieder fiel. Manchmal habe ich mir regelrecht gewünscht, dass du mal die Beherrschung verlierst und mich anbrüllst oder etwas kaputt schlägst. Die Versuchung war groß, mich richtig danebenzubenehmen, um dir endlich einmal eine echte Reaktion zu entlocken. Aber am Ende habe ich meistens doch lieber das Zimmer verlassen, weil ich dich am liebsten geschüttelt hätte vor Wut über deine Gleichgültigkeit und mir nicht zugetraut habe, mich zu beherrschen.
Ich wollte dir so oft die Wahrheit sagen. Schließlich bist du seit Langem meine einzige Familie, die einzige Person, die mir etwas bedeutet. Aber ich wusste nicht, wie ich es formulieren sollte. Wenn du nur ein bisschen weniger rational und perfekt gewesen wärst, hätte auch ich weniger perfekt sein können, dann hätte ich mich vielleicht überwunden. Na ja, jedenfalls habe ich in letzter Zeit den Eindruck, dass die alte Jen wieder aufgetaucht ist, die Jen, die ich damals an der Uni kennengelernt habe.«
In gewisser Weise hat er damit gar nicht so unrecht. Ich habe mich tatsächlich wiederentdeckt. Vielleicht habe ich das Justin zu verdanken, weil er mich gezwungen hat, für mein Leben zu kämpfen und es wieder schätzen zu lernen. Er hat in mir die Erkenntnis reifen lassen, dass ich in meinem Leben nicht länger nur außenstehende Beobachterin sein kann, sondern meines eigenen Glückes Schmied bin und es hegen und pflegen muss. Durch Justin habe ich meine Kompromissbereitschaft entdeckt, und meinen Mut.
Aber ich habe auch meine Grausamkeit entdeckt. Vermutlich besteht die Herausforderung nun darin, den Deckel dieses Lochs in meinem Herzen wieder zu schließen und auch in Zukunft geschlossen zu halten, die dunklen Dinge einzusperren, die darin noch schlummern mögen. Ich kann nur hoffen, dass mich meine Vergangenheit nicht eines Tages einholt, dass nicht an einem schönen, sonnigen Vormittag, an dem Dan und ich gerade zu einem romantischen Wochenende aufbrechen wollen, das Telefon klingelt …
Aber es bringt nichts, sich um Dinge zu sorgen, die man ohnehin nicht in der Hand hat. Damit werde ich mich auseinandersetzen, wenn es so weit ist.
Unsere Flitterwochen, die wir vier Monate nach der Hochzeit antraten, waren herrlich. Wir flogen nach New England und bestaunten die lebhafte Herbstfärbung der Bäume und machten einen Ausflug an die blauweiße Küste von Cape Cod. Danach ging es zum Whale-Watching nach Nantucket, und Dan versuchte sogar, Moby Dick zu lesen. Der Anfang gefiel ihm gut, aber ich werde ihm keinen Vorwurf machen, wenn er den Roman nicht zu Ende liest. Wenn ich ehrlich bin, habe ich diesen Schinken selbst nie ganz gelesen.
Den Schluss unserer Reise bildeten vier Tage in New York, wo ich schon immer hatte hinreisen wollen. Dan und ich fanden die Architektur einfach umwerfend.
Epilog
V ielleicht sollte ich erwähnen, dass doch noch eine Überraschung auf mich wartete, als ich im Herbst aus den Flitterwochen zurückkehrte.
Zwischen März und unserer Hochzeit hatte ich insgeheim ständig auf eine neue SMS oder E-Mail von Justin gewartet. Ich hatte überall nach Neuigkeiten über ihn gesucht – in den Polizeiakten, in der Zeitung, auf Facebook –, hatte sogar von Zeit zu Zeit die Website »Surfschlampen« besucht. Man wusste schließlich nie. Aber ich hatte keine neuen Videos von Justin oder Pootle entdeckt. Vielleicht hat Justin ja doch noch einen Funken Anstand in sich entdeckt, redete ich mir ein, vielleicht hat er beschlossen, von jetzt an ein ehrliches Leben zu führen. Möglicherweise hat er seine Fehler eingesehen und ist ein ganz neuer Mensch geworden. Oder ihn langweilt die Welt der Internetpornographie. Oder …
Nach der Hochzeit und Sophies Geschenk hörte ich auf zu suchen.
Ende Oktober, kurz nach meiner Rückkehr aus New York, übernahm ich vertretungsweise die Leitung der Pressestelle, während Nigel Kathy Collier als Kommunikationschef vertrat, die ihren Mutterschutz am Ende sogar noch verlängerte. Nach dem Morgenmeeting
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