Der Preis des Schweigens
einschätzen kann und weiß, dass sie schweigsam und zuverlässig ist, fällt einem nicht ein, wie man es am besten ins Gespräch einfließen lässt.
Der Kontakt zwischen Dan und seiner alten Familie wäre sicher für immer eingeschlafen, wäre Onkel Karol, der selbst keinen Sohn hatte, nicht an einem plötzlichen Herzinfarkt gestorben. Er hinterließ dem eigentlich nicht mehr zur Familie gehörenden Daniel Petrovic, der in seinem vor vielen Jahren verfassten Testament als einziger Erbe genannt wurde, ungewollt eine nicht unerhebliche Summe Geld sowie – was deutlich heikler war – Ausschüttungen aus verschiedenen undurchsichtigen Investitionen.
Teile des Familiengeschäfts waren inzwischen recht seriös, darunter ein interkontinentales Import/Export-Unternehmen, das offiziell mit Autoteilen und Baumaschinen handelte und in der Speditionsbranche tätig war. Unter den gehandelten Waren befanden sich auch hin und wieder Drogen, Waffenladungen, Bargeld und sogar Menschen, aber die offiziell Beschäftigten wussten davon nichts, genauso wenig wie die Unternehmensanwälte, die in Odessa und London um Onkel Karols Vermögen und Daniel Petrovics Verbleib stritten.
Wenn Dan nicht nach London gereist wäre, um die Papiere zu unterschreiben, die die Anwälte ihm vorlegten, hätten sie vielleicht auf eigene Faust nach ihm gesucht und angefangen, Fragen zu stellen, und wer weiß, was sie dann herausgefunden hätten?
Sophie, die Tochter von Onkel Josef, hatte das Treffen mit den Anwälten eingefädelt. Sie hatte inzwischen eine wichtige Führungsrolle im Familienunternehmen eingenommen und war ganz die Tochter ihres Vaters. Man konnte sich darauf verlassen, dass sie Probleme und Schwierigkeiten effizient und diskret löste. Wenn es nur um Onkel Karols Testament und sein Privatvermögen gegangen wäre, hätte man sicher eine Möglichkeit gefunden, die Sache ohne Dan zu regeln, aber die Ausschüttungen kamen von Firmen, die nichts mit den Privatgeschäften der Familie zu tun hatten. Die Anwälte dieser Firmen wollten sich natürlich vergewissern, dass der richtige Mann seine Anteile an Sophia Petrovic überschrieb. Da Dan seinem Vater und seinen Onkeln sehr ähnlich sah und seine alte Geburtsurkunde vorzeigen konnte, die er vorsichtshalber behalten hatte, ging die Transaktion problemlos über die Bühne.
Und dann war es vorbei – das heißt, es wäre vorbei gewesen, wenn ich nicht Dinge gefunden hätte, die ich nicht hätte finden sollen: die beiden Belege von der unerwarteten »Geschäftsreise« zu einer »Konferenz« nach London, die später nicht in Dans Polizei-Spesenrechnung auftauchten; die gedämpften nächtlichen Telefongespräche mit Sophie, die ich mitbekommen hatte; die Quittung über die Lilien, die er mir nie geschenkt hatte – es war das Beerdigungsgesteck für Onkel Karol gewesen. Dan war zwar so umsichtig gewesen, alle Ausgaben bar zu begleichen – das Benzin, das Hotelzimmer, die Blumen – und dadurch keine Spuren auf seiner Kreditkartenabrechnung zu hinterlassen, aber die Quittungen waren noch in der Jacke seines besten Jacketts gewesen, wo ich sie gefunden hatte. Nun ja, wo ich danach gesucht hatte.
Dann rief Sophie an, um ihm mitzuteilen, dass die Transaktion erfolgreich beendet sei.
Als Dan an jenem sonnigen Oktobermorgen versucht hatte, meiner wirbelsturmartigen Rage standzuhalten und mir all dies zu erklären, hatte ich mit Sarkasmus und Ungläubigkeit reagiert. Ach, sie ist also deine Cousine, Dan? Natürlich! Komisch, dass ich noch nie von ihr gehört habe. Hast du nicht immer behauptet, du hättest keine lebenden Verwandten?
Was für eine erbärmliche Lügengeschichte, hatte ich gedacht.
Aber es war die Wahrheit gewesen. Nachdem ich Zeit gehabt hatte, Dans Erklärung zu verdauen, hatte ich mit Sophie gesprochen, die mir Dans Geschichte bestätigte. Es war nur um diese eine Familienangelegenheit gegangen, das Testament, das Erbe. Eine einmalige Sache, die sich nicht wiederholen würde. Ich bat Sophie, nie wieder bei Dan oder bei uns zu Hause anzurufen, und sie antwortete, dass es dafür auch keinen Grund gebe. Natürlich hätte ich damals niemals für möglich gehalten, dass ich einmal Grund haben würde, sie anzurufen.
Seltsam, wie man die einfachsten Dinge falsch interpretieren, durcheinanderbringen, missverstehen kann. Als wir in unsere Flitterwochen aufbrachen, sagte Dan zu mir, dass ihm in den Wochen vor und nach der Hochzeit eine deutliche Veränderung an mir aufgefallen sei, die ihm
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