Der Preis des Schweigens
Freunde von ihm in einem Strandhaus in der Nähe gaben.
Ich zögerte, weil mir bewusst war, dass ich ihn eigentlich überhaupt nicht kannte, und weil ich sonst nie so etwas Gewagtes tat. Sich in einem Pub zu unterhalten war eine Sache, eine Party bei fremden Leuten eine ganz andere. Vermittelte ich den Eindruck, dass ich leicht zu haben war und bereit, einen Schritt weiterzugehen, wenn ich mitkam? Aber die Nacht fühlte sich perfekt an, und ich wollte nicht, dass sie schon endete. Ich weigerte mich, die Vernünftige zu sein, die mit einem Stück Kreide einen Strich mitten durchs Zimmer zieht und sagt: Ich glaube, das reicht jetzt. Aber vor allem wollte ich nicht in mein Kingsize-Bett im Watch-House zurückkehren und den unvermeidlichen Anbruch eines neuen, zweifelhaften Tages abwarten.
Also redete ich mir ein, dass dieser Abend Schicksal, dass er meine Bestimmung war. Der Streit mit Dan, das Hotel, Justin – der erste Mann seit Jahren, zu dem ich mich unwiderstehlich hingezogen fühlte. Das alles konnte einfach kein Zufall sein. Irgendjemand gab mir ein Zeichen. Ich musste nur klug genug sein, es richtig zu deuten, dann würde mein Leben auf einen Schlag anders werden.
Als Justin mein Zögern bemerkte, ruderte er sofort zurück und gab sich ritterlich: »Nein, doofe Idee. Du kennst mich ja gar nicht. Tut mir leid. Aber irgendwie kommt es mir so vor, als hätte das Schicksal gewollt, dass ich dich heute Abend treffe. Und ich habe noch keine Lust, nach Hause zu gehen.«
Ich war längst entschlossen, mit ihm zu kommen, sträubte mich aber noch ein wenig, bevor ich mich von ihm die holprige Landstraße entlangführen ließ, die zu dem Strandhaus führte, in dem die Party steigen sollte. Es war stockdunkel, und er hielt galant meinen Arm, damit ich nicht stolperte. Während wir dicht nebeneinanderher gingen, atmete ich den sanften Salzgeruch seiner Jacke ein und die Wärme seines Halses. Und dachte: Was zum Teufel tust du da, Jen?
Die gedämpften Lichter des Strandhauses funkelten uns durch die kalte Luft entgegen, und dann lag es vor uns, reetgedeckt, gedrungen und weiß getüncht. Aber drinnen war alles still. Kein Anzeichen für eine Party. Nicht einmal Stimmen waren zu hören.
»Sie sind also noch nicht zurück«, stellte Justin fest und nahm mir meine Jacke ab. »Umso besser. Dann hab ich dich noch ein bisschen für mich allein.«
Ich fühlte mich geschmeichelt. Inzwischen war ich mehr als nur ein bisschen angeheitert und kam mir mutig und erwachsen vor, frei und impulsiv. Trotzdem erklärte ich nachdrücklich, dass ich höchstens noch auf ein Glas Wein bleiben würde, dann aber wirklich gehen müsse.
Im Handumdrehen hatte Justin den Holzofen zum Brennen gebracht, und wir setzten uns mit unseren Weingläsern vor die knisternden, immer größer werdenden Flammen und unterhielten uns ungezwungen. Der Wind versuchte, sich in unser Gespräch einzumischen, und strich wispernd um die Dachgiebel.
Es war ganz einfach, ihm von meinen Zweifeln und Zukunftsängsten zu erzählen. Was für eine Erleichterung, mir endlich von der Seele zu reden, wie groß meine Befürchtung war, dass die Hochzeit sich als Fehler herausstellte! Je mehr Ballast ich abwarf, desto leichter fühlte ich mich und desto enger kuschelte ich mich an Justin. Irgendwann nahm ich meine Umgebung nur noch schemenhaft wahr. Während wir über Gott und die Welt plauderten, vergaß ich ganz, dass er Freunde angekündigt hatte, die nie auftauchten. Justin erzählte von seinen Texten und seinen Reisen, und in mir erwachte die leise Hoffnung, dass es vielleicht einen Platz für mich an seiner Seite gab.
Trotz des Weins und des prasselnden Feuers und der leisen Musik hatte ich zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass Justin mich aktiv verführte. Er schien es kein bisschen eilig zu haben und behandelte mich wie ein vollendeter Gentleman. Ich fühlte mich sicher und war weder überrascht noch beunruhigt, als er sich zu mir beugte und sagte: »Ich würde dich wahnsinnig gerne küssen.« Und dann küsste er mich, sanft und bedächtig, bis nach und nach alle meine Nervenenden aktiviert waren. Ich hatte ganz vergessen, wie sich das anfühlte. Wie hatte ich so etwas nur vergessen können?
Ich weiß nicht, wie lange wir so dasaßen und uns küssten wie kindliche, neugierige Teenager, für die jede Berührung und jede Gefühlsregung neu ist.
»Ich würde mich sehr freuen, wenn du hierbleiben würdest«, sagte er.
»Ich glaube nicht, dass ich … Ich meine, ich
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