Der Preis des Schweigens
rief Carl mit glasigen Augen und der bedächtigen Art eines Kiffers zurück.
»Total breit, wie immer. So geht das schon, seit wir sechzehn sind. Komm, wir setzen uns dort drüben hin, damit er nicht herkommt und uns mit seinen öden Surfgeschichten nervt.« Er führte mich zu einem Ecktisch. »Ich bin übrigens Justin. Justin Reynolds.«
»Und ich bin Jen Johnson.«
»Also, was hältst du vom Watch-House?«
»Die Betten sind sehr gut«, antwortete ich und errötete, weil das irgendwie anzüglich klang. Dann lief ich vor lauter Ärger darüber, dass mich ein derart harmloser Satz in Verlegenheit brachte, noch röter an. Was Gespräche mit Männern anging, fehlte mir eindeutig die Übung. Wenn ich ehrlich war, hatte ich darin noch nie Übung gehabt.
Justin grinste. »Ach ja? Und was verschlägt eine allein reisende Frau hierher? Das Hotel ist doch hauptsächlich ein schickes Liebesnest für Pärchen, oder? Wobei ihr Frauen wahrscheinlich hauptsächlich wegen der ›wohltuenden Spa-Anwendungen‹ kommt.«
»Wohltuende Spa-Anwendungen – genau so steht es auch in der Hotelbeschreibung.«
»Stimmt. Ich muss es ja wissen, schließlich habe ich das Ding geschrieben. Was tut man nicht alles, um seine Rechnungen bezahlen zu können, nicht wahr?«
»Du schreibst für den Cool Cymru -Führer?«
»Unter anderem. Ich habe schon Kritiken über Hotels im ganzen Land verfasst. Gerade arbeite ich an einem neuen Artikel über das Watch-House, den ich an eine Reisezeitschrift verkaufen will. Bist du wirklich ganz allein hier? Ich habe gestern Abend keinen Mann an deiner Seite gesehen.«
»Kein Mann, nein.« Möglichst beiläufig klingen , ermahnte ich mich. Wir trinken schließlich nur etwas zusammen.
»Kein Mann in deinem Leben, oder kein Mann, den du hier dabeihast?«
»Äh …« Ich wollte nicht lügen und den falschen Eindruck vermitteln, dass ich Single war. Außerdem sollte er nicht denken, dass ich scharf auf ihn war. Ich dachte an meinen Verlobungsring auf dem Wohnzimmertisch. »Da bin ich mir gerade nicht so sicher. Vielleicht bald beides nicht mehr.«
»Verstehe. In solchen Fällen hilft nur noch Wein, finde ich. Natürlich nicht, um die richtige Entscheidung zu treffen, aber um für eine Weile auf andere Gedanken zu kommen.«
»Lass uns darauf anstoßen.«
Von da an nahm der Abend unaufhaltsam seinen Lauf.
Wir verstanden uns gut – spektakulär gut sogar. Justin war so nett und so aufmerksam. Ausgelassen lachten und scherzten wir und unterhielten uns über Literatur und Musik. Wir teilten so viele Vorlieben miteinander, dass uns das Schicksal zusammengeführt haben musste, dessen wurde ich mir immer sicherer. Stehst du auch auf Elbow? Ja, total! Das ist momentan meine absolute Lieblingsband! Genau wie ich besaß Justin sämtliche Elbow-Alben, auch die frühen, bevor die Band durch den Mercury-Preis berühmt geworden war. Er war sogar bei dem Konzert in der Cardiff Arena gewesen, zu dem ich mit Becky gegangen war, weil Dan sich geweigert hatte, mich zu begleiten. Justin musste am selben Abend im Publikum gewesen sein. Wie klein die Welt doch war!
»Eigentlich mag ich keine großen Konzerte, weil da jeder Idiot hingeht, aber die Arena ist super – geile Akustik«, sagte er. Ich war ganz seiner Meinung.
Er war David-Mitchell-Fan und hatte natürlich Der Wolkenatlas gelesen, aber sein Lieblingsbuch von diesem Autor war immer noch Chaos , ebenso wie meins. Er liebte Thomas Hardy und hasste D. H. Lawrence. Endlich jemand, der das genauso sah wie ich.
Ob ich gerne mal nach Italien reisen würde? Natürlich! Wer träumte nicht von den Uffizien, dem Vatikanmuseum, der Sixtinischen Kapelle, war nicht fasziniert von der »Geburt der Venus«, der »Primavera«, den schauderhaften Visionen Hieronymus Boschs von Hölle und Verdammnis?
Ich berichtete von meinem Schüleraustausch nach Siena, davon, wie sehr ich mir wünschte, wieder einmal in die Toskana zu reisen. Justin war einen ganzen Sommer lang durch ganz Italien gereist, um für seine Reiseartikel zu recherchieren. Wie beneidenswert mir sein Leben erschien!
Und so ging es immer weiter.
Alles wirkte so leicht, so ungezwungen. Ich erzählte ihm sogar von Dan. Nicht alles, nur in groben Zügen von unserer geplanten Hochzeit und unserem Streit. Es kam mir logisch vor, mich Justin anzuvertrauen, er schien zum Zuhören wie geschaffen zu sein.
Nach einer ungewissen Anzahl an Weingläsern und verstrichenen Stunden schlug er vor, noch auf eine Party zu gehen, die
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