Der Preis des Schweigens
ausgefransten blauen und grünen Armbändchen an seinem Handgelenk.
O Gott, was war das? Ein schlechter Witz, eine Fälschung? Aber das konnte nicht sein. Ich erkannte mich und das Zimmer mit den schweren orangefarbenen Vorhängen und der alten walisischen Kommode.
»Ist das das kleine Flittchen aus Bodies Überwachungsvideo?«, fragte Serian, die plötzlich hinter meiner Schulter aufgetaucht war und sich mit zwei Bechern Kaffee – einem für mich und einem für sie selbst – um die Farbeimer herum zu ihrem Schreibtisch durchschlängelte. »Sieht nicht gerade jugendfrei aus. Immer diese Perversen«, sagte sie, klang aber ganz und gar nicht entrüstet. »Bodie und Doyle waren vorhin hier und haben mir davon erzählt. Findest du nicht auch, dass Bodie ziemlich süß ist? Und dann dieser muskulöse Körper! Hoppla!« Sie war über ein Verlängerungskabel gestolpert und hatte sich heißen Kaffee über die Hand geschüttet. »Nige! Ich dachte, die Handwerker räumen hier auf? Wie sollen wir denn unter diesen Bedingungen arbeiten?«
Ich schloss sofort die Maske mit dem Video, aber Serian war ohnehin vollauf damit beschäftigt, ihre Tastatur von Kaffeespritzern zu reinigen und auf die Handwerker zu schimpfen.
Mit kühler Präzision schnappte ich mir einen USB-Stick, speicherte die Videodatei darauf, löschte sie aus meinem E-Mail-Account, dem Download-Ordner und dem Papierkorb. Dann saß ich angewidert und schwer atmend da.
»Bist du sicher, dass es dir gut geht?«, fragte Nige und strich sich das fliederfarbene Hemd und die kornblumenblaue Krawatte glatt.
Ich wusste, dass ich antworten musste, aber es kostete mich Mühe, die Worte herauszubringen: »Irgendwie fühle ich mich, als hätte ich Fieber. Vielleicht ist eine Grippe im Anmarsch.« Ich merkte, dass ich viel zu laut sprach, wie eine unerfahrene Laiendarstellerin, die verkrampft und übertheatralisch ihren Text aufsagt. »Kann ich heute vielleicht früher abhauen?«
»Natürlich«, antwortete Nige. »Du hast doch hoffentlich nicht die Schweinegrippe, oder? Kriegst du keine Luft mehr? Hast du Fieber?«
»Oder ein Ringelschwänzchen?«, fragte Serian.
»Nein.« Allein dieses kurze Wort kostete mich unendliche Mühe.
»Ganz schön gruselig, diese Schweinegrippeepidemie, oder? Julian aus der Verwaltung hat angeblich Schweinegrippe, und ich war gestern mit ihm Kaffee trinken«, erzählte Serian mit leichter Panik in der Stimme.
»Na ja, heute ist ganz schön viel los«, sagte Nige. »Verzieh dich am besten schnell, bevor dir jemand das nächste Projekt aufs Auge drückt. Mach dir einen ruhigen Abend mit deinem Verlobten, du siehst ziemlich gestresst aus.«
Gestresst. Das war stark untertrieben. Nige drückte sich gerne gewählt aus. Gestresst, verunsichert, betroffen – seine absoluten Lieblingswörter. Gestresst klang natürlich besser als geschockt, hysterisch, hyperventilierend, also befolgte ich seinen Rat und machte mich schleunigst auf den Weg zu meinem Auto.
Wie war ich in Justins Bett gelandet?
Diese Frage hatte ich mir in den Tagen nach meiner Rückkehr aus dem Watch-House bestimmt eine Million Mal gestellt, und als ich jetzt von der Arbeit nach Hause fuhr, ging sie mir wieder unaufhörlich durch den Kopf. Was war passiert? Warum hatte ich etwas getan, was so ganz und gar untypisch für mich war? Wie hatte ich mit einem Mann schlafen können, den ich gerade erst kennengelernt hatte und über den ich nicht das Geringste wusste?
Der Grundstein für dieses Verhalten war lange vor dem Abend gelegt worden, als mir Justin im Schmugglernest aufgefallen war, sogar noch vor dem Anruf von Sophie, auch wenn ich das niemals zugegeben hätte, nicht einmal mir selbst gegenüber. Dafür befürchtete ich viel zu sehr, dass es Realität wurde, wenn ich es laut aussprach, dass sich die Worte, die mir seit längerer Zeit im Kopf herumspukten, zu einer festen, greifbaren Frage zusammenfügten: »Ist die Hochzeit ein Fehler?«
Was ich empfand, ließ sich nur schwer benennen. Wie konnte ich so etwas Amorphes wie die vor sich hin tickende, kribbelnde Unzufriedenheit konkretisieren, die mich jeden Morgen überkam und die von meiner Magengrube aus nach oben in meinen Nacken wanderte, wo sie wie tausend kleine Ameisen juckte und brannte?
Ich fand Dans Musikgeschmack peinlich und ärgerte mich darüber, dass er immer nur Bier trank, nie Wein, dass er mich so gut wie nie in ein romantisches Restaurant ausführte oder mir Blumen kaufte. Mir ging nicht in den Kopf, warum
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