Der Preis des Schweigens
habe eine vierköpfige Familie darin gewohnt.
Tja, das war es dann wohl, dachte ich verzweifelt und brach in Tränen aus.
Darüber war ich fast so schockiert wie darüber, dass es mir nicht gelungen war, Justin ausfindig zu machen. Ich war noch nie nah am Wasser gebaut gewesen und ganz sicher keine dieser Frauen, die beim Anblick eines Babys, das als Sonnenblume verkleidet in einem Blumentopf sitzt, oder eines niedlichen Hundewelpen mit Nikolausmütze sofort losflennen. Und jetzt lösten sich meine Selbstachtung und meine Würde in Tränen auf. Andererseits hatte ich beides vermutlich längst verloren, indem ich zugelassen hatte, dass Justin mich nackt und auf dem Rücken liegend auf ein Video bannte.
Ich ließ den Kopf auf die Schreibtischplatte sinken. Meine Brust war wie zugeschnürt vor lauter Verzweiflung über meine Machtlosigkeit. Ich spürte, wie mein Gesicht sich zu einer weinerlichen Grimasse verzog.
»Passiert das alles gerade wirklich?«, wimmerte ich, während Tränen und Speichel den Ärmel meiner Strickjacke durchweichten.
Vielleicht hat sich Justin nur einen schlechten Scherz erlaubt, versuchte ich vernünftig zu argumentieren. Einen zugegebenermaßen kranken und perversen Scherz, aber dennoch einen Scherz. Bestimmt rief er jeden Augenblick an und sagte lachend: »Du hast mir das echt abgenommen, oder? Na los, gib’s zu!«
Falls es kein Scherz war, blieben mir nicht mehr viele Möglichkeiten. Vielleicht ließ er mich ja in Ruhe, sobald ich das Geld bezahlt hatte? Dass er seine Drohung wahrmachen und Dan das Video zeigen würde, falls ich nicht zahlte, war mir instinktiv klar.
Unglaublich, mit welch eiskaltem Kalkül er die E-Mails und Textnachrichten verfasst, wie geschickt er sie dosiert hatte. Er hatte sie mir über Tage hinweg eingeflößt, mich gequält und mir zu verstehen gegeben, dass er überall mit mir in Kontakt treten konnte – auf der Arbeit, zu Hause, auf meinem Handy. Das x am Ende seiner Aufforderung, die Summe zu zahlen, war die Parodie eines Kusses, eine kalkulierte Grausamkeit, ein höhnisches Grinsen in Form eines einzigen Buchstabens.
Aber wie hatte er das alles überhaupt geschafft? Wie war er an meine Kontaktdaten gekommen, während er selbst so schwierig aufzuspüren war? Ich hatte ihm nie meine berufliche E-Mail-Adresse und die Nummer meines Diensthandys gegeben, aber ich hatte ihm erzählt, dass ich bei der Polizei arbeitete. Und da er meinen Namen kannte, war es vermutlich nicht schwer gewesen, mich zu finden. Wie er es genau angestellt hatte, war jetzt nicht wichtig. Im Moment zählte nur, dass ich den Schaden so gut wie möglich begrenzte, und zwar schnell.
Am nächsten Tag ging ich zur Bank und hob 200 Pfund ab.
»Was mache ich mit dem Geld?«, schrieb ich per SMS.
Eine Woche verging.
»Das erfährst du in Kürze«, lautete die Antwort.
Ich wartete.
5.
D an und ich waren spät dran. An diesem Abend war die Weihnachtsfeier unseres Polizeibezirks, die wie jedes Jahr bereits Anfang Dezember stattfand, weil Polizisten in der Weihnachtszeit meist mit anderen Dingen beschäftigt sind. Am Mittag hatte eine erneute Massenkarambolage die M4 drei Stunden lang lahmgelegt, und um sieben Uhr abends hatte ich endlich die letzte diesbezügliche Presseanfrage beantwortet und schlüpfte auf der Toilette eilig in eine Jeans und ein grünes Oberteil, das hoffentlich als festlich durchging. In meiner Handtasche warteten ein Paar schwarze, tränenförmige Ohrringe, die ich erst in letzter Minute anziehen wollte. Ich hatte sie mir selbst ausgesucht, als Geburtstagsgeschenk von Dan, der es fast nie zu Ladenöffnungszeiten in die Stadt schaffte. Die Ohrringe waren wunderschön, wogen aber eine Tonne.
Ich trug noch ein wenig schwarzen Eyeliner und einen Hauch Lippenstift auf und nahm mir vor, so zu tun, als wäre ich in Weihnachtsstimmung. Vielleicht gelang es mir so, mich selbst zu täuschen und mir weiszumachen, dass alles gut war, zumindest für diesen Abend.
Weihnachten war noch nie meine bevorzugte Periode des Jahres gewesen. Zwischen Dans Schichten und meinen Bereitschaftspflichten (unsere stark strapazierten Kollegen auf Streife wollten, dass wir vierundzwanzig Stunden am Tag erreichbar waren, auch an Heiligabend und am ersten Weihnachtsfeiertag) kam meist keine echte Feiertagsstimmung auf.
Lange bevor am letzten Freitag vor Weihnachten die Feiersaison eingeläutet wurde und es rundging auf den Straßen, ging Dan traditionell mit seinen Kollegen in einem der ruhigeren
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