Der Preis des Schweigens
völlig ausgeschlossen, dass seine Jen mit einem Fremden schlafen könnte, den sie gerade erst in einem Pub kennengelernt hatte. Das war nicht die Frau, die er bald heiraten würde. Diese Frau war vernünftig, praktisch veranlagt und treu. Das stimmte auch, jedenfalls bis vor Kurzem.
Aber die Frau, die mit diesem Fremden geschlafen hatte, war ebenfalls eine Seite von mir, wofür es nun einen handfesten Beweis gab.
Ich wartete eine Woche darauf, dass sich derjenige, der die E-Mail mit dem Video-Anhang verschickt hatte, »wieder meldete«, wie er es angekündigt hatte. Es waren qualvolle Tage für mich, in denen ich angsterfüllt alle paar Stunden meinen Posteingang checkte, während Serian, Nigel und die mit der Renovierung beauftragten Maler und Tischler geschäftig um mich herumeilten. Satzfetzen über Dübel und Gerichtsverhandlungen und vanillefarbene Bodenleisten schwirrten durch den Raum. Verzweifelt versuchte ich, an etwas anderes zu denken als an jene Nacht. Ich konzentrierte mich auf meine Arbeit, verfasste Nachrufe auf verstorbene Personen und Meldungen zu gestohlenen Motorrädern und kümmerte mich um die Welle der alkoholbedingten Delikte, die mit dem Halloween-Wochenende einherging.
Zu Hause war es noch schlimmer. Ich wich standhaft Dans Blicken aus, beschäftigte mich im Haushalt und ging früh ins Bett, weil mir die Gesichtsmuskeln von dem verkrampften Lächeln wehtaten, das Normalität suggerieren sollte.
Das Unerträglichste war die Hilflosigkeit, die Tatsache, dass mir nichts anderes übrigblieb als abzuwarten.
Nach zehn endlos langen Tagen traf eine weitere E-Mail auf meinem Arbeitsrechner ein.
»Du willst doch nicht, dass Dan dich in Nahaufnahme zu sehen bekommt, oder?« Mehr nicht. Am selben Abend wartete zu Hause eine E-Mail in meinem privaten Account. »200 Pfund, und ich überlasse dir das Copyright. Einzelheiten in Kürze.«
Er kam also endlich zur Sache.
Ungläubig starrte ich auf die E-Mail. Als zehn Minuten später eine SMS auf meinem Arbeitshandy eintraf, war ich immer noch sprachlos.
»Versau dir nicht deine Hochzeit.« Ich erkannte die Nummer. Es war dieselbe Nummer, von der ich schon im Pomegranate eine SMS erhalten hatte. Jetzt wusste ich, dass sie nicht Becky gehörte.
4.
W arum tat Justin so etwas, und warum hatte er sich ausgerechnet mich als Zielobjekt ausgesucht? Ich hatte ihm weder etwas getan, noch war ich besonders wohlhabend. Ich war einfach eine ganz normale Frau. Wie konnte ein Mensch so etwas Schreckliches und Verkommenes tun? Diese Fragen schwirrten mir in jeder wachen Minute durch den Kopf, während ich zur Arbeit fuhr, in unserem geschäftigen Büro am Computer saß und tippte, Termine außerhalb der Pressestelle wahrnahm oder mittags mein Sandwich aß.
Mein Stolz war das größte Problem. Die Nacht mit Justin war so untypisch für mich gewesen, dass es schon fast an Schizophrenie grenzte, aber das wusste er natürlich nicht. Wahrscheinlich hatte er mich gesehen und sofort gedacht: Die kriege ich genauso leicht herum wie jede andere. Und damit hatte er recht behalten. Ich hatte in meinem ganzen Leben nur mit einem Mann geschlafen, der nicht mein Verlobter war, und jetzt wollte dieser Mann, dass ich buchstäblich dafür bezahlte. Das war unfair!
Es wäre einfacher gewesen, Wut und Hass zu empfinden, aber in den ersten Tagen spürte ich nichts als Selbstmitleid und war sprachlos vor Verwirrung und Fassungslosigkeit. Wo einst mein Bauch gewesen war, befand sich ein großes, schmerzendes Loch. Sobald der Schock ein wenig nachgelassen hatte, tat ich, was wohl jeder in meiner Situation getan hätte. Ich versuchte, mit Justin in Kontakt zu treten.
Zuerst antwortete ich auf seine letzte E-Mail und bat ihn, mich anzurufen, damit wir miteinander reden und die Sache vernünftig klären könnten, aber er antwortete nicht. Als Nächstes rief ich die Handynummer an, von der er mir die SMS geschickt hatte. Wie erwartet landete ich sofort bei der Mailbox. Auch die nächsten Dutzend Male, die ich während der folgenden acht Stunden bei ihm anrief, ging nur die Mailbox dran. Am Ende hätte ich das Handy am liebsten auf dem Boden zerschmettert. Vor lauter Verzweiflung hinterließ ich schließlich sogar eine Nachricht. »Justin«, sagte ich und versuchte souverän zu klingen, obwohl ich das Beben in meiner Stimme als Vorboten der Panik erkannte, die in mir aufstieg. »Keine Ahnung, ob das überhaupt deine Nummer ist. Hör zu, ich weiß nicht, worum es hier eigentlich geht,
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