Der Preis des Schweigens
Pubs von Cardiff ein paar Bierchen trinken. Dann kam er gut gelaunt und zu Umarmungen aufgelegt nach Hause, um mit seinem nach Bier und Curry riechenden Atem auf dem Sofa einzuschlafen.
Ich hingegen ging zum alljährlichen Truthahn-Essen der Kommunikationsabteilung, wo meine Kollegen jedes Jahr aufs Neue über ihre Kinder jammerten und zu späterer Stunde auf der Toilette miteinander rummachten. Von diesen Nachmittagen kam ich regelmäßig beschwipst und gereizt zurück und schwor mir, dass ich garantiert das letzte Mal dabei gewesen war.
Wenn wir Glück hatten, schafften Dan und ich ein oder zwei Pubbesuche pro Weihnachtssaison. Dann trug ich ein neues Oberteil und flache Stiefel und einen Parka, damit »wir ohne zu frieren zu Fuß nach Hause gehen können, falls wir kein Taxi erwischen«, wie der stets praktisch veranlagte Dan erklärte. Und wenn wir noch mehr Glück hatten und uns der Gott des Dienstplans hold war, konnten wir entweder am ersten oder am zweiten Weihnachtsfeiertag zusammen zu Abend essen. Beides war uns nie vergönnt.
Außerdem ließ sich Dan jedes Jahr bei einer der Bezirks- oder Abschnitts-Weihnachtsfeiern blicken, wozu ich ihn mehr aus Pflichtgefühl als aus Begeisterung begleitete. Viel lieber wäre ich auf dem Sofa liegen geblieben, hätte alte Filmklassiker geschaut und dabei in streng rationierten kleinen Portionen eine Packung Orangenkekse mit Schokoladenüberzug gegessen. Stattdessen begleitete ich Dan und lächelte höflich und versuchte, einen guten Eindruck als »Lebensgefährtin« zu machen. So konnte wenigstens niemand behaupten, Dans Freundin aus der Pressestelle in der obersten Etage wäre eine eingebildete Tussi und zu hochnäsig, um sich unters »einfache Volk« zu mischen. Solchen Vorwürfen wurde man natürlich hauptsächlich durch Frauen ausgesetzt.
Es war jedes Jahr aufs Neue eine spannende Frage, welcher hochrangige Polizeibeamte diesmal ausflippte und einen spontanen Striptease auf der Tanzfläche hinlegte oder mit einer verheirateten Kollegin herumknutschte. Manchmal wurden schon im Vorfeld unter der Hand Wetten abgeschlossen.
Dan schien sich auf diesen Weihnachtsfeiern immer gut zu amüsieren, wahrscheinlich weil er überall beliebt war. Ständig kamen Kollegen zu ihm, um über Gott und die Welt zu plaudern, ihn um Rat zu fragen oder von ihren Problemen zu erzählen. Die einfachen Streifenpolizisten liebten ihn, weil er sachlich und geradlinig war und nichts von dem üblichen arroganten Gehabe der höhergestellten Beamten an den Tag legte. Und seine Vorgesetzten oder gleichrangigen Kollegen schätzten ihn, weil er neben den eben genannten Eigenschaften auch noch eloquent und unterhaltsam war und sie zuverlässig davon abhielt, sich auf der Tanzfläche das Hemd vom Leib zu reißen. Zumindest sorgte er hinterher dafür, dass alle Handyfotos von peinlichen Auftritten sofort gelöscht wurden.
Vor allem aber mochten ihn die Sekretärinnen und jungen Polizistinnen, weil er gut aussah, athletisch gebaut war und ihnen das Gefühl gab, dass er sich für ihre Befindlichkeiten und ihr Gerede interessierte. Mit aufgerissenen Augen und leicht geöffneten Lippen umkreisten sie ihn, als wären sie hypnotisierte Schlangen und er ihr Schlangenbeschwörer.
So war es schon seit jenem Abend gewesen, als Dan und ich noch studiert hatten und uns auf einer Weihnachtsparty kennengelernt hatten. Ich war im ersten Semester gewesen, frisch von der Schule, strahlend und naiv, arglos, unbefleckt, unerfahren.
Er hatte gerade seinen Magister in Sozialwissenschaften und Politik gemacht und war vier Jahre älter als ich – ein gut aussehender junger Mann, der ruderte und joggte und die Sunday Times las.
Seine Joggingrunde führte an meinem Wohnheim vorbei, und er trug normalerweise enge rote Shorts, die bei den Mädchen der höheren Semester dreimal die Woche gegen 17 Uhr – sofern es nicht regnete – einen kleinen Aufruhr erregten.
Auch ich beobachtete ihn heimlich und träumte hin und wieder von ihm, hätte jedoch niemals den Mut aufgebracht, ihn anzusprechen. Er war groß und schlank, ein eleganter, geschmeidiger Läufer. Er faszinierte mich sehr, aber er war kein Junge mehr, sondern ein richtiger Mann. Das Mädchen, das noch in mir steckte, hatte bei aller Bewunderung auch ein wenig Angst vor seiner ungezwungenen Körperlichkeit, seiner kraftvollen Präsenz, die mühelos so viel Platz einzunehmen schien.
Und dann geschah bei der Weihnachtsparty des Uni-Sportvereins das Unfassbare: Er
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