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Der Preis des Schweigens

Der Preis des Schweigens

Titel: Der Preis des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beverley Jones
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»Ekelpaket, wenn er getrunken hatte« beschrieb, hatte Dan nie kennengelernt. Gewisse, nicht näher erläuterte »unerfreuliche Umstände« hatten dazu geführt, dass Dans Mutter jeden Kontakt zu ihm abgebrochen hatte. Wenig später war der Vater an Darmkrebs gestorben. Dan sprach nicht gern über seine Familie, was ich sehr schade fand. In meinen Ohren hörte sich das alles furchtbar interessant und romantisch an.
    Ich selbst liebte meinen Vater sehr. Er arbeitete als Buchhalter für ein Unternehmen, das Kunststoffbehälter herstellte, und war der netteste und unbekümmertste Mensch auf dem Planeten. Meine Mutter, die zunächst mit Leib und Seele Hausfrau und Mutter war und dann Betreuerin an einer Grundschule wurde, liebte ich ebenso sehr, aber beider Biographien waren weder besonders spannend noch romantisch.
    Nach dem Tod seiner Großtante erbte Dan ihr hübsches, dreistöckiges viktorianisches Häuschen in Chelsea, dessen Wert sich in der Zeit, in der er studierte, verdreifachte. Er verkaufte es und investierte die Kaufsumme klug, lebte sparsam und gab nur wenig Geld aus.
    Ich hingegen war in einem gepflegten Reihenhaus nördlich von Pontypridd im südlichen Wales aufgewachsen, umgeben von gutmütigen, neugierigen Verwandten, die sich in alles einmischten. So etwas wie Intimsphäre gab es bei uns nicht, und auch Geld war nie da, obwohl meine Eltern hart arbeiteten und äußerst sparsam waren. Ausgeglichen wurde dies durch Weisheiten wie »Man muss dankbar sein für das, was man hat« und »Erst bis zehn zählen, dann sieht alles schon ganz anders aus«. Für meine Familie war es ganz normal, inmitten von ständiger Beredsamkeit zu leben, weil von morgens bis abends Verwandte ihre Nase ins Wohnzimmer, in die Küche oder in fremde Angelegenheiten steckten. Ich liebte meine Familie sehr, aber es war trotzdem nicht verwunderlich, dass ich mich nach Ruhe sehnte und einer guten Berufsausbildung, damit ich mir später ein größeres Haus mit mehr Rückzugsmöglichkeiten leisten konnte.
    Unsere Familienurlaube verbrachten wir in einfachen Ferienwohnungen oder wackeligen Wohnwagen an den windgepeitschten Küsten von Wales oder Devon, wo sich nachmittags die ganze Familie am Strand versammelte, um Tee zu trinken, Kuchenrezepte auszutauschen und über Fußballergebnisse zu diskutieren.
    Ich hingegen träumte von Südfrankreich und Rom im Frühling. Abends starrte ich sehnsüchtig auf den beleuchteten Globus, den mir meine Mutter auf mein Flehen hin zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte, und drehte ihn zu den Orten, die ich in meinem Bilderatlas als sehenswerte Ziele ausgemacht hatte.
    Wie hätte ich da nicht von Dan und seiner Geschichte fasziniert sein können? Er hatte eine bewegte Vergangenheit, kannte sich in London aus, hatte Kunstgalerien besucht und die Oper, war im Rahmen seines Politikstudiums in Berlin gewesen, hatte anlässlich eines Schüleraustauschs eine Woche in Mailand verbracht.
    Er hörte sich aufmerksam und ernst meine feministischen Analysen der Romane von Virginia Woolf und Charlotte Brontë an und stellte anschließend zutreffende Fragen. Genau wie ich mochte er Filmklassiker und alte Sciencefiction-Filme, und zwar nicht nur Star Wars , wie alle großen Jungs, sondern die echten Klassiker aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren, die seiner Ansicht nach die politische Paranoia dieser Zeit perfekt widerspiegelten. Und er schien Fußball aufrichtig zu hassen (ein unschätzbarer Bonus).
    Er war über das aktuelle Zeitgeschehen im Bilde, durchschaute die Probleme, die im Nahen Osten immer wieder zu Konflikten führten, und kannte sich mit Militärgeschichte aus, einem Thema, das mich zwar interessierte, über das ich aber schlecht informiert war. Er hatte zu den verschiedensten Dingen eine Meinung und besaß eine selbstgenügsame, zupackende Mentalität. Und er hatte ein gutes Herz.
    Aber ich war mir sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ihn meine lernbegierige, gutmütige Gelassenheit langweilte und er sich ein Mädchen suchte, das hübscher und cooler und aufregender und kultivierter und selbstbewusster war als ich.
    Erst als einige Monate vergangen waren und wir ein richtiges Paar wurden, ging mir auf, dass Dan tatsächlich nicht begehrte, was andere männliche Mittzwanziger an Frauen zu bewundern schienen – enge Oberteile und tiefe Ausschnitte, tonnenweise Lipgloss und kokettes, anhimmelndes Gekicher.
    »Was willst du eigentlich mit mir, Dan?«, fragte ich anfangs noch hin und wieder und

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