Der Preis des Schweigens
Hoffnung. Alles an Justin war mir so perfekt erschienen.
Ich fragte mich gerade, wie ich so leichtgläubig, so unbedacht hatte sein können, als Dans Auto auf den Hotelparkplatz einbog. Unrasiert und mit aufgewühltem Gesicht stürzte er in die Lobby und klopfte zwei Minuten später, in denen ich Ordnung in meine Gedanken zu bringen versuchte, schüchtern an die Zimmertür und fragte leise, ob er hereinkommen dürfe, um mit mir zu reden.
Ich war auf der Hut. War das nur der Prolog zu seiner üblichen Inszenierung? Würde er wütend aus dem Zimmer stürmen, sobald ich ihm Widerworte gab? Würde er wieder behaupten, dass ich ihn zur Raserei brächte und er in meiner Anwesenheit nicht klar denken könne? Wollte er nur die Oberhand zurückgewinnen, damit er derjenige sein konnte, der mich sitzenließ? Es sah nicht danach aus. Mit hängendem Kopf erklärte Dan, dass er gekommen sei, um mich nach Hause zu holen. Er schien gewillt zu sein, zu flehen und zu versprechen und zu diskutieren, und das alles wunderbarerweise, ohne die Beherrschung zu verlieren. Nie hätte ich damit gerechnet, dass Dan einmal vernünftig mit mir reden würde. Er kniff weder trotzig die Lippen zusammen, noch schüttelte er den Kopf oder entzog sich. Stattdessen argumentierte er.
Meine Vorbehalte schmolzen dahin, als ich hörte und sah, wie er seine Entschuldigungen vorbrachte. Auf einmal war alles wieder da. Der ganze Schmerz und das ganze Elend, die ich am Freitag aus mir herausgeheult hatte, drängten wie eine herbstliche Sturmflut in meine Brust zurück. Ich saß stocksteif auf dem Bett und verdrängte die Gedanken an die letzte Nacht und an Justin, um mich allein auf Dans Lippen zu konzentrieren, die mich eindringlich baten, zurückzukommen und es noch einmal zu versuchen.
Im nächsten Moment küsste er mich, und ich erwiderte seinen Kuss. Wir weinten beide. Wie heimtückisch ein vertrautes Gesicht und die Zärtlichkeit von Händen sein können, die einem die Tränen aus dem Gesicht wischen, und wie befriedigend es ist, wenn man erfährt, dass man gebraucht wird. Es gab noch so viel zu sagen zwischen uns, aber dafür brauchten wir Zeit. Diese Chance seien wir uns nach fast neun gemeinsamen Jahren doch schuldig, oder etwa nicht?, flehte er. Ja, dachte ich. Ja.
Und: Nein, es ist immer noch alles falsch. Und: Vielleicht. Und auch: Was habe ich nur getan?
Schließlich erklärte ich mich bereit, wieder mit Dan nach Hause zu kommen. Mir war klar, dass ich das sofort getan hätte, wenn ich in den letzten Tagen auch nur ein Mal seine Stimme am Telefon gehört hätte. Sobald ich Ja gesagt hatte, war alles, was von den aufreibenden und verwirrenden achtundvierzig Stunden seit Sophies Anruf übrigblieb, die vage, lückenhafte Erinnerung an einen Fehltritt. Wie ein Fisch zappelte sie am Rande meines Bewusstseins, gerade eben außer Reichweite.
Und jetzt war sie plötzlich wieder da, lebensecht und in Farbe, ein Home Video am frühen Abend, um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. In leicht körniger Qualität flimmerten die Bilder vor mir über den Computerbildschirm – ich saß inzwischen mit zugezogenen Vorhängen zu Hause in meinem Arbeitszimmer –, Hüftschwung für Hüftschwung, Stoß für Stoß. Jennifer, wie sie leibt und lebt, nur doppelt so verschwitzt wie sonst. Ich ertrug es kaum, dieses Geschöpf mit den zappelnden Armen und Beinen zu betrachten, die kreative Choreographie der Bewegungen, den auf Video gebannten Beweis für meine Untreue.
Ich verstand gar nichts mehr. Es war schlimm genug, dass Justin am nächsten Morgen abgehauen war und mich allein im Bett zurückgelassen hatte, weggeworfen wie ein Taschentuch, das man nicht mehr braucht, nachdem man damit Körperflüssigkeiten aufgewischt hat. Und jetzt auch noch das?
»Ich melde mich wieder«, stand in der E-Mail. Sonst nichts. Warum klangen diese vier kleinen Wörter so bedrohlich?
Eines wusste ich ganz sicher: Dan durfte das Video auf keinen Fall zu Gesicht kriegen oder von Justin erfahren. Nicht jetzt, wo er sich solche Mühe gab, alles wieder ins Lot zu bringen. Er war ein Meter fünfundachtzig groß, konnte mit einem Schlagstock umgehen und wusste, wie man mit bloßen Händen einen Angreifer unschädlich macht, aber es würde ihm das Herz brechen, dieses Video zu sehen.
»Keine Geheimnisse mehr«, hatte er bei unserem Restaurantbesuch im Pomegranate gesagt. Es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass ich ebenfalls Geheimnisse haben könnte. Für ihn war es
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