Der Preis des Schweigens
noch ein bisschen Geld übrig, aber wenn Justins Forderungen weiterhin in so kurzen Abständen eintrafen, war die Summe bald aufgebraucht. Dan würde schnell misstrauisch werden, wenn ich über Geldnot klagte oder ihn bat, mir etwas zu leihen.
Ein undefinierbares Gefühl breitete sich in mir aus, etwas Dunkles und Klebriges, das meine Kehle hinuntertropfte und sich in meiner Magengrube sammelte. Während ich weiter durch das Wäldchen rannte, wartete ich darauf, dass sich das Gefühl in aller Klarheit offenbarte und mir die Richtung wies.
Ich schoss zwischen den Bäumen hervor und näherte mich der eisbedeckten Anglerhütte am Flussufer. An der Treppe tummelte sich eine Gruppe Jugendlicher, die sich gegenseitig mit Schneebällen bewarfen.
»Lauf, Forrest, lauf!«, schrie ein Junge und lachte sich mit seinen Freunden ins Fäustchen.
Ich war der Gruppe schon öfter begegnet, und der heutige Kommentar war definitiv einer der harmloseren. Die beliebtesten Sprüche, die ich mir von den Jungen anhören musste, waren Geiler Hintern, Süße oder Lust, meinen Schwanz zu lutschen?. Dabei konnten sie nicht älter als dreizehn sein. Ich ignorierte die Gruppe wie üblich, weil die einzige Alternative darin bestand, Schimpfwörter zurückzubrüllen, womit ich mich auf ihr Niveau begeben und sie vermutlich weiter angestachelt hätte. Oder ich hätte mir eine neue Route suchen müssen, aber ich sah es überhaupt nicht ein, dass mich eine Bande vorpubertärer Idioten verscheuchte.
An diesem Tag machte irgendetwas klick in meinem Kopf. Ich würde mich weder von den Jugendlichen noch von überhaupt jemandem verscheuchen lassen – ganz im Gegenteil. Ich musste irgendwie erreichen, dass Justin vor mir davonrannte.
Meine Lungenflügel öffneten sich, und die Endorphine zirkulierten frei durch meinen Körper und brachten mir die ersehnte Klarheit. Ich rannte drei Runden um die Sportplätze und joggte dann wieder nach Hause. Jetzt wusste ich, was ich tun würde.
Der Schnee blieb nur vierundzwanzig Stunden liegen, aber am nächsten Morgen musste ich dennoch einer langatmigen Einsatznachbesprechung beiwohnen, in der es um die (erneute) Sperrung der M4 sowie die Blockierung mehrerer Landstraßen aufgrund von nächtlichen Unfällen ging.
Jack NewsBeatWales hatte um neun Uhr morgens bereits viermal angerufen, um sich einen »Überblick über das Schneechaos« zu verschaffen, wie er es nannte. So chaotisch sei die Nacht nun auch wieder nicht gewesen, hatte ich entgegnet. Nein, ich könne ihm leider nicht die Einzelheiten jedes SVU – Straßenverkehrsunfalls – der letzten vierundzwanzig Stunden nennen, da dies den zeitlichen Rahmen sprengen würde, aber es sei niemand gestorben oder lebensgefährlich verletzt worden. Er fragte dennoch nach Automarken, Schadensdetails, Anzahl, Alter und Wohnort der Insassen und wollte wissen, in welches Krankenhaus sie mit welchen Verletzungen eingeliefert worden waren.
Ich gab mein Bestes, aber unser System wurde nicht immer sofort aktualisiert, wenn keine Verkehrstoten involviert waren. Jack war nicht besonders glücklich darüber, dass ich ihm nur allgemein gehaltene Informationen per E-Mail schickte, aber er würde die bittere Pille wohl schlucken müssen. Ich spürte, wie sich ein hämmernder Kopfschmerz zwischen meinen Augen und in meinem Nacken einnistete. Ich hatte sonst nur selten Kopfschmerzen und hoffte, dass keine Erkältung im Anmarsch war. Während ich zum wöchentlichen Image-Meeting ins Besprechungszimmer eilte, sehnte ich die Mittagspause herbei, damit ich mich endlich ins Büro der Kriminalpolizei schleichen und erneut an Bodies Computer die Datenbank durchforsten konnte.
Müde und gelangweilt saß ich da, während meine uniformierten Kollegen über Partnerschaften, positive Darstellung in der Öffentlichkeit und Zufriedenstellung der Stadträte durch Polizeiinitiativen in den Gemeinden schwadronierten. Als ich meine Stelle angetreten hatte, hatte ich keineswegs die Illusion gehegt, dass meine Arbeit wahnsinnig aufregend oder heldenhaft sein würde, aber dass ich mich derart oft mit bürokratischem Blödsinn herumschlagen musste, hatte ich nicht für möglich gehalten.
Im Prinzip hatte ich mich direkt nach der Uni bei der Polizei beworben. Anfangs war es nur als Notlösung gedacht gewesen, schließlich hatte mein Studium weder mit Medien noch mit PR zu tun gehabt. Ich hatte einen Abschluss in britischer und europäischer Geschichte und in englischer Literatur. Geschichte, weil ich
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