Der Preis des Schweigens
Themen, mit denen man bei der modernen Polizeiarbeit konfrontiert wird.
Dan brachte jeden Abend Geschichten von der Arbeit mit, die ihm Außenstehende nie abgenommen hätten – schreckliche, traurige, witzige, herzerwärmende Geschichten. Bevor ich meine Stelle als Pressereferentin antrat, stellte ich es mir dramatisch und aufregend vor, im Falle eines Vorfalls schnell in meine Kleider schlüpfen zu müssen, um am Ort des Geschehens im Blitzlichtgewitter zu stehen und wichtige Interviews zu geben.
Manchmal traf das auch ein, aber man musste sich auch mit lästigem statistischem Firlefanz und politischen Rangeleien herumschlagen und jagte ständig irgendwelchen Zielvorgaben hinterher. Am meisten litt ich unter den nicht enden wollenden Meetings.
Normalerweise überlebte ich diese Meetings, indem ich mein Gehirn nur auf Sparflamme laufen ließ und mich an einen angenehmen Ort träumte, den ich dann mit Hintergrundwissen füllen musste. Ich stellte mir zum Beispiel vor, dass ich auf dem Markusplatz in Venedig (den Napoleon den »schönsten Festsaal Europas« genannt hatte) im Schatten des Campanile saß (wo Galilei sein Teleskop vorgeführt und die kopernikanische Ansicht vertreten hatte, dass die Erde sich um die Sonne drehte) und einen Bellini trank (Pfirsichsaft mit Prosecco, erfunden in den Dreißigerjahren in Harry’s Bar, die wiederum von Noel Coward, Truman Capote und Ernest Hemingway frequentiert worden war).
Aber heute hatte ich keinen Sinn für mein kleines Tagtraumspielchen, sondern betete hinter der Fassade meines höflichen Lächelns, dass das Meeting schnell vorbeigehen möge.
Sobald es sich endlich auflöste und die Teilnehmer zum Mittagessen verschwanden, schlüpfte ich, ohne lange zu zögern, ins Kripo-Büro und rief die Suchmaske von Bodies NOMAD-Programm auf. Ich musste schnell sein. Bodie und seine Kollegen waren zu einer Messerstecherei in Splott gerufen worden und würden bestimmt bald zurück sein. Nach der Mittagspause würde sich das Büro mit all jenen Detective Constables füllen, die die Renovierung aus ihren Zimmern vertrieben hatte und die sich darum stritten, wer zuerst an den Computern des Großraumbüros seine Berichte schreiben durfte.
Die Rundumerneuerung des Gebäudes war allerdings so gut wie abgeschlossen. Am Morgen hatte ich das durchgesessene alte Sofa von Sergeant Stan neben den Mülltonnen im Hinterhof stehen sehen, und die letzten Teppichrollen standen neben der Tür zu den Arrestzellen im Untergeschoss bereit. Bald würde Bodie wieder in sein altes, frisch renoviertes Büro ziehen, wo ihn ein nagelneuer Schreibtisch und ein PC mit Flachbildschirm erwarteten. Dann würde es deutlich schwieriger werden, sich an seinen Computer zu schleichen.
Natürlich war immer noch kein Justin Reynolds bei NOMAD registriert, aber in dem Programm sind auch die Kennzeichen der Autos vermerkt, die in Unfälle verwickelt waren. Ich tippte das von Justins Bus ein.
In Porthcawl hatte ich mir aus alter Polizeigewohnheit sein Nummernschild gemerkt, wobei mir mein exzellentes Gedächtnis geholfen hatte. Bei meiner letzten Suche hatte ich weder in der Polizeidatenbank noch bei der Kraftfahrzeugbehörde einen Justin Reynolds gefunden, aber ich wusste, dass der Mann, der sich Justin Reynolds nannte, einen Campingbus fuhr. Wenn ich das Kennzeichen eingab, fand ich vielleicht seinen Bus, und damit auch den Namen des Halters.
Der Computer gab ein Pling von sich. Die Suchmaschine hatte etwas gefunden. Der Eintrag war zwar schon acht Jahre alt, aber immerhin. Mit geübtem Blick überflog ich den Schadensbericht und lauschte dabei mit einem Ohr auf Schritte im Flur. Es sah ganz danach aus, als wäre der Campingbus im Jahr 2002 in einen Unfall mit einem Landrover und einem Postauto verwickelt gewesen. Der Landrover war auf Höhe des Dorfladens von Aberthin, in dem auch die örtliche Poststelle untergebracht war, über die B234 geschlittert, hatte einen Briefkasten gestreift und war schließlich gegen das Postauto geprallt. Der Campingbus, der hinter dem Landrover gefahren war, hatte angehalten, war aber – da niemand verletzt war – noch vor Eintreffen der Polizei weitergefahren.
Laut Protokoll hatte der Postbote sich das Kennzeichen aufgeschrieben, für den Fall, dass er jemanden brauchte, der seine Unschuld bezeugte. Der Campingbus war damals auf einen siebenundfünfzigjährigen Michael Mathry aus Pennard zugelassen gewesen, und eine Überprüfung hatte ergeben, dass er ordnungsgemäß versichert
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