Der Preis des Schweigens
es toll fand, mir Wissen allein um des Wissens willen anzueignen, und Literatur, weil Erzählliteratur meine Sehnsucht nach Realitätsflucht befriedigte. Ich liebte die Synthese von Fakten und Erlebnissen, Geschichte und Geschichten, die diese klassischste aller Fächerkombinationen mir bot. Dass sie mich auf keinen bestimmten Beruf vorbereitete, war mir damals egal gewesen. Während des Studiums würde ich schon noch herausfinden, welchen Beruf ich einmal ergreifen wollte, da war ich mir sicher. Und ich war mir genauso sicher, dass ich bei erster Gelegenheit aus Wales wegziehen würde, vielleicht sogar aus Großbritannien.
In der Pressestelle der Polizei war ich mehr oder weniger aus Zufall gelandet. Weil ich Dan kennengelernt hatte.
Er war gerade dabei gewesen, seine Magisterarbeit zu schreiben, als ich mein erstes Studienjahr hinter mir hatte, und am Ende meines zweiten Studienjahres wurde er für die Polizeiausbildung zugelassen und lernte den rauen Polizeialltag kennen. Als ich meinen Uniabschluss machte, war er bereits zum Detective Constable aufgestiegen und wollte, dass wir zusammen ein Haus kauften. »Mieten ist Geldverschwendung, Jen«, betete er mir zwei Jahre lang vor. »Das Geld ist futsch, ohne dass man dafür das Geringste in der Hand hat.«
Er hätte es gerne gesehen, wenn ich schon vor meinem Abschluss bei ihm eingezogen wäre. Dadurch hätte ich sogar Geld gespart, denn er bestand darauf, die Miete allein zu übernehmen. Schließlich wusste er, dass ich knapp bei Kasse war. Aber ich lehnte beharrlich ab, mit der Begründung, dass ich erstens meine eigenen vier Wände zum Lernen brauchte und es zweitens besser wäre, getrennte Wohnungen zu haben, weil unser Lebensrhythmus viel zu unterschiedlich sei.
Nachdem ich in allen meinen Fächern als Beste abgeschnitten, ein hart erarbeitetes ausgezeichnetes Examen abgelegt und einen Sommer und Herbst lang auf der faulen Haut gelegen hatte, musste ich langsam Geld verdienen. Meine Eltern hatten fleißig gespart und sich eingeschränkt, um mir mein dreijähriges Studium zu ermöglichen, aber ich hatte dennoch wie alle anderen Studenten Kredite zurückzuzahlen und musste mich zudem mit dem Problem auseinandersetzen, dass ich immer noch keine Ahnung hatte, welchen Berufsweg ich einschlagen wollte.
In dieser Phase gelang es Dan schließlich, mich zu einem gemeinsamen Hauskauf zu überreden, und als im Februar eine gut bezahlte Stelle in der Pressestelle der Cardiffer Polizei frei wurde, sagte Dan: »Das wäre doch eine interessante Erfahrung und würde sich außerdem gut in deinem Lebenslauf machen. Und du könntest anfangen, deine Studienkredite zurückzuzahlen. Versuch es doch einfach ein Jahr lang, während du dir überlegst, was du wirklich willst. Du bist so ein schlauer Kopf, du findest überall Arbeit.«
Aber genau das war mein Argument dagegen. Es hörte sich nicht gerade nach einer großen Herausforderung an, sich täglich ein paar Pressemitteilungen aus den Rippen zu leiern, außerdem fand ich es ein bisschen zu spießig, im selben Jahr ein Haus zu kaufen und bei der Polizei anzufangen. Aber da ich kein Geld hatte, um weiter herumzureisen und mir in Ruhe Gedanken zu machen, welche Branche mir lohnenswerter erschien, traf ich eine Vernunftentscheidung und schickte die Bewerbung ab.
Alptraum-Nige hatte das Bewerbungsgespräch geführt, bei dem die dicke Paula als Vertreterin der Personalabteilung und einer der Chief Superintendents als Abgeordneter der Kriminalpolizei teilgenommen hatten.
»Eigentlich wollten wir niemanden nehmen, der nicht aus dem Bereich Medien oder PR kommt«, hatte Nigel erklärt, als er mich einige Tage später anrief, um mir mitzuteilen, dass ich beim Bewerbungsgespräch auf ganzer Linie überzeugt hatte. »Aber Sie waren den anderen Bewerbern haushoch überlegen. Ihre offenkundige geistige Reife hat uns sehr beeindruckt.«
Anfangs war mir meine Arbeit wider Erwarten sinnvoll und kurzweilig vorgekommen. Immerhin habe ich unmittelbaren Einfluss auf den Alltag der Menschen, hatte ich mir eingeredet. Das war mit Sicherheit besser, als irgendwo in einem Callcenter zu sitzen. Ich interessierte mich für die Polizeiarbeit und ihre Geschichte, und Dan und ich diskutierten regelmäßig über Themen wie institutionalisierten Rassismus, Einmischung durch das Innenministerium, Auswirkungen von Etatkürzungen und Wirksamkeit von einstweiligen Verfügungen wegen unsozialen Verhaltens – kurz, über sämtliche politischen und sozialen
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