Der Preis des Schweigens
damit er anschließend unter Hochdruck weiter an seiner Karriere arbeiten konnte.
Aber ich war erst einundzwanzig.
Bewaffnet mit meinem Amerikaführer, einigen Klassikern der amerikanischen Literatur (einem Gedichtband von Robert Frost und Der scharlachrote Buchstabe von Nathaniel Hawthorne) und einem Rucksack voller Shorts, T-Shirts und Sonnencreme stieg ich schließlich ins Flugzeug. Vier Monate unter dem blauen Himmel von New England, zwischen Bäumen und plätschernden Badeseen, stellten sich als anstrengende, aber auch unerwartet beglückende Erfahrung heraus.
Es stimmte zwar, dass ich ständig erschöpft war und mir die Kinder mit ihrer ungestümen Anhänglichkeit manchmal auf die Nerven gingen. Fast alle stammten aus der schwarzen oder hispanischen Unterschicht und standen auf Gangsta Rap und begrüßten sich mit Ghettofaust. Alle waren unter zwölf und nahmen an Bostoner Sozialprojekten teil. Verständlicherweise fanden sie ihre sehr weißen, sehr anständigen britischen Betreuer ziemlich eigenartig.
Auch meine Kollegen gingen mir auf die Nerven, denn die meisten waren stinkreich und vagabundierten mit Mamas und Papas Kreditkarte durch die Weltgeschichte.
Ich fragte mich tatsächlich die meiste Zeit, was ich da eigentlich tat, fand es aber trotzdem irgendwie schön. An unseren freien Wochenenden verschanzten wir Betreuer uns in der Personalhütte und tranken dünnes, warmes Budweiser oder Whiskey Cola – was natürlich gegen die Campregeln verstieß. Wir flirteten unbeholfen und tanzten zu allem, was das scheppernde Radio hergab. Einmal nahm ich sogar einen Zug von einem Joint, von dem ich gerne noch mehr geraucht hätte, weil ich wusste, dass Dan sich darüber geärgert hätte, aber ich mochte den Geschmack nicht.
Im Camp gab es einen gutmütigen, bärtigen Exhippie namens Joe, der die Kinder mit einem alten Schulbus herumfuhr. Er hatte eine Schwäche für mich und erzählte mir Geschichten aus den Sechzigern und Siebzigern (sofern er sich noch daran erinnerte). Er besaß ein Tattoo-Studio im nahe gelegenen Örtchen Orange, direkt neben der weißen Holzschindelkirche und dem Porky-Tum-Pizzaservice, und bot an, mir eine Glockenblume auf die Schulter zu tätowieren, weil die genauso irre blau ist wie deine Augen, Mann !. In den langen Nächten sahen wir den Glühwürmchen zu und hörten die Doors.
Wie ich diese surreale, märchenhafte Welt liebte, dieses Land, in dem alles mit einer Glasur aus besonders kräftigen, bunten Farben überzogen schien, in dem es Extraportionen Pommes frites gab und man Kaffee nachgeschenkt bekam, so viel man wollte.
Ich vermisste Dan, aber nicht so sehr, wie ich erwartet hatte. Ihm fiel die Trennung natürlich schwerer, weil er zu Hause saß und arbeitete und seine Probezeit bei der Polizei zu Ende absolvierte, weil er ohne mich seinen üblichen Alltag bewältigen musste.
Die Campingreise führte uns zuerst nach Boston, dann in die Städte und Dörfer von Vermont und Maine und schließlich wieder zurück nach Massachusetts. Am Ende schlugen wir unser Lager am Strand von Cape Cod auf, braun gebrannt und staubig von der Reise, bereit, die Grills anzuzünden und uns auf das Essen zu stürzen. Hier, am sich ständig verändernden Saum des tiefblauen Meeres, am Rand der einst Neuen Welt, veränderte sich auch in mir etwas.
Ich atmete tief ein, umgeben von einem Globus aus Meer und Himmel und kleinen weißen Holzhäusern, aus schneeweißem Leuchtturm und Möwen, die über mir im Wind tanzten, aus Ewigkeit, die sich um mich herum in hundert verschiedenen Blau- und Grautönen erstreckte.
Die steifer werdende Brise brachte auch das Wispern einer köstlichen Ungewissheit mit sich, die mich nicht mehr nervös machte, vor der ich keine Angst mehr hatte. Der Wind schmeckte nach Salz und Seetang, ein bisschen wie Blut. Ich hatte das Gefühl, meine Füße könnten sich jeden Moment aus dem feuchten Sand lösen, weil mein Körper mit unsichtbaren Schwingen gen Himmel flog, hinein in die Abendsonne.
In diesem Moment war die Versuchung groß, bei meinen Reisebegleitern zu bleiben und für mehrere Wochen oder sogar Jahre, vielleicht für Jahrzehnte, vor allem davonzulaufen. Ich konnte in den Weiten Amerikas untertauchen, konnte verschwinden wie die Leute, die manchmal im Fernsehen gesucht werden, konnte von Stadt zu Stadt ziehen und in Bars oder Imbisslokalen arbeiten, Menschen kennenlernen, die ich sonst nie getroffen hätte, und mich auf feuchtfröhliche, abenteuerliche Road Trips
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