Der Preis des Schweigens
für jeden Studenten. Aber das Einzige, was Dan dort wirklich gefallen hatte, war das Anne-Frank-Haus gewesen, vermutlich weil es mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun hatte.
Er hatte sich schon unwohl gefühlt, wenn wir auch nur in die Nähe eines Coffeeshops gekommen waren und Gefahr liefen, Cannabiswolken einzuatmen. Das fand ich noch verständlich, schließlich stand er damals kurz vor der Aufnahmeprüfung zum Polizeidienst. Er hatte die irrationale Sorge, dass er passiv zu viel Gras einatmete und den Drogentest nicht bestand. Außerdem fand er, dass in den Coffeeshops zu viele Herumtreiber und Faulenzer herumhingen.
Die Wörter »Herumtreiber« und »Faulenzer« waren für Dan auch damals schon die schlimmsten Beleidigungen, und wenn er jemanden ein »stinkfaules Arschloch« nannte, wusste man, dass seine Verachtung ihren Höhepunkt erreicht hatte.
Er weigerte sich strikt, durch das Rotlichtviertel zu gehen, was ich als Frau nicht allzu schlimm fand.
Anfangs glaubte ich, Amsterdam sei einfach die falsche Stadt für ihn gewesen, aber Dan lehnte auch die von mir vorgeschlagenen Reisen nach Kopenhagen (»zu kalt und angeblich längst nicht so reizvoll, wie alle sagen«), Prag (»zu viele Junggesellenabschiede und Taschendiebe«), Paris (»zu klischeemäßig«) und Rom (»überteuerte, schmutzige und von Graffiti verunstaltete Touristenfalle«) ab.
Mehrere Valentinstage, Geburtstage und Jahrestage vergingen, ohne dass er mich auch nur ein Mal mit einem romantischen Kurztrip überraschte, wie es andere Männer oft mit ihren Freundinnen taten. Während meine Kommilitonen im Sommer nach meinem zweiten Studienjahr ihre Rucksäcke packten, um an exotische Orte zu reisen, verbrachten Dan und ich zehn Tage in Portugal – an der Algarve, um genau zu sein. Das Hotel, das Dan ausgesucht hatte, war wunderschön und geschmackvoll und lag abgelegen an einem hübschen Strand. Dan vertrieb sich die Zeit mit Windsurfen und Schnorcheln, und wir schwammen täglich im Meer. Ich las viel und bewunderte die Umgebung, aber ich langweilte mich schon nach kurzer Zeit und fühlte mich einsam und zappelig.
Bereits auf dem Rückflug schlug Dan die Balearen als Reiseziel für den nächsten Sommer vor.
Am Ende meines dritten und letzten Studienjahres, als er gerade seine Polizeiausbildung beendet hatte und darauf drängte, ein Haus zu kaufen, war ich fest entschlossen, an einen interessanten Ort zu reisen, und wenn ich es allein tun musste. In einem seltenen Anfall von Aufsässigkeit, der meine Eltern – und, wenn ich ehrlich bin, auch mich selbst – schockierte, zettelte ich eine Rebellion an und meldete mich als Betreuerin für ein Ferienlager in den Vereinigten Staaten.
Zuerst würde ich neun Wochen in einem Camp in Massachusetts verbringen, wo es vor Waschbären und Streifenhörnchen nur so wimmelte, und dort Ferienkinder hüten. Aber damit nicht genug: Im Anschluss würde ich an einer organisierten Campingreise durch New England teilnehmen, bei der wir von Camp zu Camp zogen.
Dan hatte mit Überraschung und Verärgerung reagiert, als ich ihm die Anmeldeformulare gezeigt hatte, und etwas vom Unabhängigkeitskrieg, der Boston Tea Party, den Hexenprozessen von Salem und dem weißen Hai gemurmelt. Als ich tatsächlich angenommen wurde, war seine Verärgerung in offene Feindseligkeit umgeschlagen.
»Das ist nichts anderes als Sklavenarbeit, und das weißt du auch. In solchen Ferienlagern wimmelt es nur so von Gammlern. Ich bin mir sicher, dass es dir dort nicht gefällt«, hatte er erklärt.
Er fand, dass es mir überhaupt nicht ähnlich sah, so abenteuerlustig zu sein und nicht auf seine vernünftigen Argumente zu hören. Und das, obwohl ich Kinder eigentlich überhaupt nicht mögen würde und das Ganze überhaupt viel zu gefährlich sei.
»Wie soll ich dich denn erreichen, wenn du jeden Tag woanders bist?«, fragte er immer wieder. Damals waren Handys noch nicht in jedermanns Benutzung, aber ich versprach ihm, von jedem Münztelefon anzurufen, das mir unterwegs begegnete. Außerdem gab ich ihm die Adressen sämtlicher Camps, in denen wir uns aufhalten würden.
»Findest du das nicht ein bisschen sehr studentenmäßig? Und teuer wird es bestimmt auch«, warnte er mich, als er merkte, dass ich keineswegs vorhatte, einen Rückzieher zu machen und wie gewöhnlich einzulenken.
Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten wir stattdessen lieber unser Projekt »Hauskauf« vorangetrieben und uns »ein schönes gemeinsames Nest« gesucht,
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