Der Preis des Schweigens
kannte oder wusste, wo sie hingezogen waren. Und es konnte sogar sein, dass der Wohnwagen noch von einem Sohn genutzt wurde, der leidenschaftlicher Surfer war und eine Vorliebe für Sexvideos hatte.
Falls die Mathrys nichts mit »meinem« Justin zu tun hatten und Mr Mathry den Campingbus damals an ihn verkauft hatte, ohne die neuen Besitzverhältnisse bei der Versicherung zu melden, konnte er sich vielleicht noch an den Käufer erinnern und mir sagen, wie er ausgesehen hatte.
Was mir Hoffnung machte, war die Tatsache, dass Aberthin nur eine halbe Stunde Fahrt vom Hotel Watch-House in Penallt entfernt lag. Das konnte kein Zufall sein. »Ich bin dir auf den Fersen, Justin«, murmelte ich leise, als hinter einer Kuppe das Meer auftauchte. »Wart’s nur ab, Freundchen.«
Wenn man nicht genau wusste, wo der Wohnwagenpark von Aberthin war, konnte man ihn leicht verfehlen. Er lag zwar nur eine knappe Viertelstunde von der Hauptstraße entfernt, aber die Küste bestand hier aus einem Labyrinth aus Feldwegen, Wäldern und Büschen, aus Pfaden und Weggabelungen, die alle gleich aussahen und zu einsamen Stränden und Kiesbuchten führten.
Ich rechnete bereits damit, mich heillos zu verfahren, aber dann ging mir plötzlich auf, dass ich vor langer Zeit schon einmal hier gewesen war.
Es waren einige Schilder, die vor Landminen warnten, die meinem Gedächtnis auf die Sprünge halfen. Im Alter von sechzehn Jahren hatte ich einmal mit zwei Freundinnen hier die Ferien verbracht. Die Eltern der einen Freundin, Wendy, hatten damals ganzjährig einen Wohnwagen auf dem Platz gehabt, den sie liebevoll ihren »Schuppen auf Rädern« nannten. Gemeinsam mit unserer Freundin Shirley durften wir allein unsere Ferien in dem Wohnwagen verbringen, und der mangelnde Komfort hatte uns kein bisschen gestört.
Die Einrichtung des Wagens, dessen Baujahr ich auf 1970 schätzte, war seit Urzeiten nicht mehr verändert worden und bestand hauptsächlich aus orangefarbenem und braunem Kunststoff. Durch das Dach tropfte es herein, und die Chemietoilette nutzten wir nur, wenn es gar nicht anders ging. Aber wir schnupperten zum ersten Mal echte Freiheit und genossen, umgeben von Strand und Wiesen, unser elternloses Dasein.
An dem einzigen Tag, an dem es nicht regnete, radelten wir in waghalsigem Tempo die sich schlängelnden Feldwege entlang und wichen den dicken Tropfen aus, die von den nassen Bäumen fielen. Direkt hinter der Zufahrt des Wohnwagenparks entdeckten wir sie, die verbeulten Schilder mit den Totenköpfen, die vor verschütteten und seither vor sich hin schlummernden Landminen aus dem Zweiten Weltkrieg warnten. Beim Gedanken daran, dass sie ganz in unserer Nähe verrotteten, vielleicht sogar unter den grünschwarzen Seetangbüscheln am Strand, lief uns ein eiskalter Schauder über den Rücken. Warum jemals eine Armee auf die Idee gekommen war, dieses gottverlassene Ende der Welt als Ort für einen Einmarsch auszuwählen, war uns ein Rätsel, aber die Warnschilder gaben einen guten Hintergrund für Fotos ab.
Den Rest der verregneten Woche verbrachten wir drei Mädchen – eins blond, eins brünett und eins rothaarig – im Wohnwagen, wo wir Toast mit Marmelade und Brot mit Spiegelei aßen, verdünnten Fruchtsaft tranken und es uns im Schneidersitz auf den kratzigen Polstern bequem machten. Dort saßen wir zwischen den Töpfen und Pfannen, die wir als Auffangbecken für den hereintropfenden Regen zweckentfremdet hatten, und lasen uns begeistert durch einen Stapel Groschenromane von Wendys Mutter, während Wind und Gischt von der nahe gelegenen Bucht gegen den Wohnwagen prasselten.
Alle paar Minuten brach eine von uns in Gekicher aus und las den anderen eine besonders schwülstige Passage oder einen schmachtenden Dialog vor. Wie amüsierten uns über die sich ständig wiederholenden Szenarien, das häufige Auftauchen von Vornamen wie Lucinda, Charlotte, Felicity, Chad oder Armando, die hochtrabenden doppelten Nachnamen, darüber, dass alle weiblichen Hauptfiguren Modedesignerinnen, PR-Assistentinnen oder Fotografinnen waren und die männlichen Schweizer Bankiers, freiberufliche Journalisten oder Ölmagnaten. Meine Lieblingsgeschichte hieß Irrtum der Liebe und handelte von einem Schuft namens Stein Wallbeck, den man fast schon als Vergewaltiger bezeichnen konnte, denn er presste seine Männlichkeit ständig an die arme, jungfräuliche Fotografin Felicity und rang sie auf verschiedenen Gartenmöbeln nieder.
Seither lautete unser Urteil
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