Der Preis des Schweigens
begeben, auf den Spuren Jack Kerouacs. Das alles natürlich in dem Wissen, dass ich jederzeit zurückkehren und wieder ein bürgerliches Leben führen konnte, wenn die Sehnsucht nach einem festen Wohnort und einer sicheren Liebe zu groß wurde.
Aber dann holte mich der Gedanke an Dan ein und ich wurde jäh in die Realität zurückkatapultiert. Bereits hier, am Strand von Cape Cod, hörte ich das gleichförmige Ticken unserer gemeinsamen Tage, das am Ende meiner rasant kürzer werdenden Auszeit auf mich wartete. Von jetzt an würde mich meine Reise nur noch zurück nach Boston und dann die 12000 Kilometer zurück nach Großbritannien führen, zurück ins Vergessen. Als ich dort am langsam anschwellenden Meer stand, in dem sich die Lichtreflexe der surrenden und vibrierenden Sonne von Massachusetts spiegelten, stieg zum ersten Mal Groll in mir auf, Groll gegen den Mann, den ich eigentlich liebte.
Während ich an dem kleinen silbernen Herzanhänger herumfummelte, den mir Dan vor meiner Abreise geschenkt hatte, Dan, der so sicher war, dass ich unverändert und unverdorben zu ihm zurückkommen würde, wusste ich tief in meinem Inneren, dass ich nicht weglaufen konnte. Ich brachte nicht den Mut auf, ihm zu sagen, dass ich ihn nicht liebte. Zumal es nicht stimmte. Ich liebte ihn. Zumindest was das betraf, hatte er recht.
Nachdem ich seine Umarmungen und Küsse am Flughafen hinter mich gebracht hatte, fuhren Dan und ich in seinem kleinen roten Auto nach Hause, und in mir brannte das Gefühl, etwas verloren zu haben. Ich hatte einen Teil von mir an jenem Strand zurückgelassen, der bereits in weite Ferne gerückt war, hatte ihn gegen einen Stein eingetauscht, der unterhalb meines Herzens in meiner Brust lag und mich erdete und an meinem Platz hielt. Mit diesem Stein gingen Erinnerungen an Licht und Verheißung einher, die zwar immer mehr verblassten, aber noch mindestens zehn Jahre lang die Frage aufwerfen würden: »Was wäre gewesen, wenn …?«
Ich war wieder zu Hause, und wir sahen uns Häuser an, fanden den »Übergangsjob« bei der Polizei für mich, und damit war das Ende jedes »studentenmäßigen« – also unverantwortlichen – Verhaltens gekommen.
Die Zeit der Vernunft war angebrochen.
Ich schlug den Weg des geringsten Widerstands ein und tauschte meinen Jack Daniel’s gegen Wein ein, erklärte mich zu Urlaubsreisen bereit, die Dan Spaß machten, und beschwerte mich nicht mehr, wenn ich lieber einen anderen Radiosender hören wollte. Diese kleinen, ja geradezu winzigen Zugeständnisse kamen mir nicht wie ein Opfer vor, sie passierten einfach, ein ständiges Tröpfeln in das Gefäß der täglichen Kompromisse. Was ich eigentlich dachte, behielt ich für mich. Was brachte es, sich über etwas aufzuregen, was sich ohnehin nie ändern würde?
Zumindest machten mir meine Zugeständnisse nicht viel aus, solange ich zu wissen glaubte, wer Dan war, solange er der solide, zuverlässige Partner war, der wie ein Kompass immer in dieselbe Richtung zeigte. Solange ich noch wusste, wo wir standen und wofür wir standen und dass es weit schlimmere Orte gab als den an seiner Seite.
Und dann kam dieser Anruf – von dieser Frau. Sophie . Und plötzlich war Dan nicht mehr der Mann, für den ich ihn bis dato gehalten hatte. Er war nicht mehr der standhafte und verlässliche Dan – ehrlich und wahrhaftig, ein Fels in der Brandung. Der Boden unter meinen Füßen hatte angefangen zu beben.
Durch den Riss, der in meinem Herzen entstand, sprangen alle meine einstigen Hoffnungen und Wünsche heraus, die ich tief in mir verschlossen hatte, und allem voran stürmten die Fragen auf mich ein: Warum heiraten wir überhaupt? Warum sind wir ein Paar? Liebe ich ihn überhaupt genug? Muss ich mich damit zufriedengeben?
Während diese Fragen wie unheilverkündende Geier über meinem Kopf gekreist hatten, war ich ins Auto gestiegen und mit meinem Robert-Frost-Gedichtband zum Watch-House gefahren. Ich erinnerte mich noch genau an den Geruch nach Holzfeuer und salziger Meeresluft, der mich dort erwartet hatte, an die schiefen kleinen Fenster, hinter denen das Kaminfeuer leuchtete.
Dan sagte etwas über Zakynthos und schreckte mich damit aus meinen dunklen Gedanken. Während er die Tagliatelle abgoss und sie dann nach viel zu kurzer Abtropfzeit auf die Teller häufte, schwärmte er von Lagunen und Parasailing.
Ich starrte auf den Katalog und die paradiesischen Fotos vor mir auf dem Tisch. Er wartete auf eine Antwort von mir, eine Meinung.
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