Der Prinz der Rache: Roman (German Edition)
befand sich eine große Gruft. Und auf einem der Sarkophage dort drinnen hockte ein Mann mit schlohweißen Haaren und aß ein paar Weintrauben. Ihm gegenüber lehnte ein anderer, ungeheuer breitschultriger Mann mit ebenfalls schneeweißen Haaren an der Wand. Und da saß noch jemand auf dem Boden, mit dem Rücken zu Vil, der leisen Stimme nach eine junge Frau. Aber auch ihre Haare waren weiß.
Vil prallte entsetzt zurück: Gesegnete. Er war auf Gesegnete gestoßen! Musste es denn immer noch schlimmer kommen?
Er duckte sich an die Wand. Noch hatten sie ihn nicht gesehen, das war immerhin etwas. Andererseits, vielleicht mussten sie ihn gar nicht sehen, um zu wissen, dass er da war, es waren Gesegnete. Er atmete tief durch und versuchte, all die Schauergeschichten, die er über diese Menschen gehört hatte, zu vergessen. Er war einem Menschenfresser begegnet – schlimmer konnten die da eigentlich auch nicht sein. Aber sie waren zu dritt, er war allein, und früher hatte ihm seine Großmutter erzählt, dass die Gesegneten um Häuser herumschlichen und Kinder raubten. Er biss die Zähne zusammen, er war schließlich kein Kind mehr.
Als er seine Nerven wieder im Griff hatte, fiel ihm noch etwas auf, ein Lichtschimmer am Ende des Ganges, und er war nicht gelblich, wie von Kerzen, nein, er schimmerte blassgrau, wie von … Tageslicht! Das Dumme war nur, dass er, um dorthin zu gelangen, an der offenen Tür der Gruft vorübermusste. Aber wenn er erst einmal diesen Lichtschimmer erreicht hätte …
Vil hörte auf nachzudenken. Er holte tief Luft und rannte los.
» He, wer ist das? « , hörte er aus der Grablege, aber da war er schon fast am Ziel. Der schmale, blasse Lichtspalt kam näher. Eine Tür, und sie war nicht verschlossen! Vil erreichte sie, stieß sie auf und rannte weiter, hinaus auf eine schmutzige Gasse, rannte, bis er mit jemandem zusammenstieß und zu Boden fiel.
Regennasses Pflaster, eng stehende Häuser, ihre Dächer stießen fast zusammen, aber darüber stand ein langer Streifen hellgrauen Himmels, aus dem leichter Regen auf die Stadt und auf Vil herabfiel, der ungläubig nach oben starrte.
» Hast du dir wehgetan, Junge? « , fragte der Mann, mit dem er zusammengestoßen war und der unter der Last eines riesigen Kohlensacks ächzte.
» Nein, Menher « , antwortete Vil.
» Schade « , sagte der Kohlenschlepper, drehte sich um und stapfte seines Weges.
Vil kam rasch auf die Füße. Er hatte es geschafft, er war der Halde entronnen! Er konnte sein Glück kaum fassen. Er betrachtete die schmalen, einfachen Häuser, und er sah das eine oder andere Handwerkerschild über einem Eingang baumeln. Er musste sich also irgendwo in der Osthälfte der Stadt befinden, in einem der Handwerkerviertel vermutlich. Früher hätten seine Eltern ihm sicher verboten, sich hier herumzutreiben, jetzt erschien ihm schon der freie Himmel wie unerhörter Reichtum, und ein Haus, ein gemauertes Haus mit richtigen Türen und Fenstern, wie der Himmel auf Erden. Seine gute Laune verflog. Seine Eltern würden ihm nie wieder etwas verbieten, sie waren beide tot, und er war zwar entkommen, aber seine Schwester nicht, und er würde den Weg zurück niemals finden.
» Was stinkt denn hier so erbärmlich? « , fragte eine Frau, die, einen Korb Wäsche in die Hüfte gestemmt, die Straße heraufkam.
» Ich weiß es auch nicht. Waren denn die Kehrichtmänner heute nicht hier? « , fragte ihre Nachbarin, die ebenfalls einen schweren Korb Wäsche trug.
» Wenn sie hier waren, haben sie wohl irgendetwas übersehen. Oder, halt! Bist du das etwa, Freundchen? «
Die Frau starrte Vil feindselig an.
» Willst du etwa betteln? « , rief die andere. » Nicht bei uns! Hier wohnen ehrbare Leute, die für ihr Geld hart arbeiten. Pack dich! Oder ich rufe den Büttel! «
Vil stand der Mund offen. Dann wurde er knallrot. Die Frau hatte vermutlich recht, er hatte die letzten Monate im Abfall gelebt, nur dass er es selbst nicht mehr roch. Er stammelte ein paar sinnlose Entschuldigungen und rannte davon. Die Handwerker, die vor ihren kleinen Läden saßen, die Lastenträger, die Hausfrauen und sogar die Kinder schienen ihn feindselig anzustarren. War das ein Wunder? Seine zerlumpte Kleidung und der Gestank, der ihm auf der Haut klebte, waren ja unübersehbare Hinweise auf das, was er war: eine Ratte, gerade erst der Halde entronnen. Das Meer. Er musste zum Meer und den Dreck der vergangenen Monate abwaschen!
Das war allerdings leichter gesagt als getan,
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