Der Prinz in meinem Maerchen - Roman
mehrere Stunden hinweg diesen Drachen und die sich zankenden Mädchen hatte ertragen müssen.
»Anna«, rief Michelle darum fröhlich, »ich denke, dass nun alle bereit sind.«
Anna blätterte eine Seite weiter, setzte ein Lächeln auf und las weiter vor.
Als sie wieder anhob, richtete sich die Aufmerksamkeit der geistig regeren Bewohner wieder auf sie, und sie hingen buchstäblich an ihren Lippen. Evelyn McQueen starrte betont desinteressiert aus den hohen Fenstern, wo sie unten im Garten irgendetwas zu faszinieren schien. Außer Annas Stimme und dem gelegentlichen Umblättern einer Seite war im Aufenthaltsraum kein Ton zu hören – doch es war eine andere Art der Stille als jene träge, eintönige Stumpfsinnigkeit, die zuvor über allem gehangen hatte. Jetzt entstand vielmehr eine Art gespannte Stille. Nach und nach richteten sich immer mehr Augen auf Anna, schlossen sich kurz und öffneten sich dann mit neuem Interesse.
Selbst Michelle ertappte sich dabei, wie sie gebannt lauschte. Es war, als befände sich noch jemand anderes bei ihnen in diesem Raum, jemand Vertrautes, der Gemütlichkeit und Trost spendete. Michelle merkte richtig, wie sie sich in ihrem Sessel entspannte und den schäbigen Bezug vergaß, je weiter sich die Geschichte entfaltete.
Und dann hatte sie die Idee.
Anna. Anna könnte den Buchladen ein Jahr lang führen.
Dieser Geistesblitz war so plötzlich eingeschlagen, als habe ihr ein Schutzengel diese Worte eingeflüstert.
Dabei war es so offensichtlich. Anna besaß viel Erfahrung mit Büchern, und was noch wichtiger war: Sie liebte sie. Es kam richtig Leben in sie, wenn sie von Romanen, Worten, der Magie des Geschichtenerzählens und dem ganzen Kram schwärmte. Ihre Leidenschaft für Bücher würde den Laden brummen lassen, so wie Michelles eigene Leidenschaft fürs Einrichten Home Sweet Home zu einem Erfolg hatte werden lassen.
Michelle hatte Mühe, ihre Begeisterung für sich zu behalten. Mit dieser Idee war es gar nicht mehr nötig, Mr. Quentin dazu zu überreden, sie dort einen anderen Laden eröffnen zu lassen. Dieser schnöselige Anwalt hatte gesagt, der Buchladen müsse nur ein Jahr fortgeführt werden; sie musste also nur noch Anna dazu bringen, die Bücher zu verkaufen, die dort bereits auf Lager waren – und das schienen eine ganze Menge zu sein. Wenn sich die Verkaufszahlen nach sechs Monaten nicht rechneten – und selbst Michelle konnte beim besten Willen nicht zaubern –, na ja, dann hätte sie ein geeignetes Argument in der Hand. Sie hatte es versucht; es hatte eben nicht funktioniert.
Ich sollte sofort bei Flint & Cook anrufen, dachte sie, bevor es jemand anderes tut.
Michelle entschuldigte sich, doch bei Annas spannender Vorlesestimme schien niemand ihren Fortgang zu bemerken.
Nachdem sie in einen Flur abgebogen war, holte sie ihr Handy heraus, wählte die Nummer der Anwaltskanzlei und bat darum, zu Rory Stirling durchgestellt zu werden. Während die Musik in der Warteschleife dudelte, zwang sie sich, das Plakat zur Diabetes Typ 2 nicht zu lesen, das vor ihr an der Wand hing.
»Yesterday« endete abrupt, und schon war Rory Stirling am anderen Ende der Leitung.
»Ah, die Königin des Schnickschnack der Longhampton High Street.« Er klang, als würde er gerade an seinem Schreibtisch essen. Michelle fiel es schwer, ihren Ärger herunterzuschlucken. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Quentin’s Buchladen«, erklärte sie. »Ist der noch zu haben?«
»Ja. Ich habe zwar die Zeitungsannonce hier schon vor mir liegen, aber bislang habe ich beim Anzeigenverkauf der Gazette noch niemanden erreichen können.« Er klang amüsiert. »Ich dachte eigentlich, wir wären hier sehr geschäftstüchtig, aber Sie stellen uns alle in den Schatten.«
»Sehr gut. Ich würde ihn gern mieten, bitte.«
»Als Buchladen?«
»Als Buchladen.« Michelle entfernte sich ein paar Schritte von den Postern und schaute aus dem Fenster hinaus auf das, was früher einmal eine Art Barockgarten gewesen war. Ein Rotkehlchen hüpfte über einen Weg hin zu einer zugefrorenen Vogeltränke. »Ich habe eine Geschäftsführerin in petto, mit der Mr. Quentin sicherlich höchst zufrieden wäre. Eine Frau, die eine leidenschaftliche Leseratte ist. «
»Aha.« Rory klang eher amüsiert als misstrauisch, doch Michelle konnte fühlen, wie es ihm unter den Nägeln brannte, zu sagen, »Ach, kommen Sie schon, das ist doch ein Witz, oder?«
»Jedenfalls habe ich darüber nachgedacht, was Sie gesagt haben«, fuhr
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