Der Prinz von Atrithau
erkannten sie sie.
»Wahrheit leuchtet«, sagte Esmenet und blickte zu Boden.
»Gnädige Frau…«, flüsterte einer von ihnen, als würde ihm vor lauter Erstaunen die Stimme versagen. Sie verhielten sich in ihrer Gegenwart immer schüchterner und unterwürfiger, als ob auch sie immer mehr an Bedeutung gewonnen hätte. Obwohl ihr das unangenehm war, erregte ihre Ehrerbietung sie auch. Und im Lauf der Zeit schien es sie stets weniger verlegen zu machen und ihr immer besser zu gefallen. Es war kein Traum.
Krächzende Töne kamen aus der dunklen Ferne. Irgendwo bliesen die Tempelpriester in ihre Gebetshörner, und die orthodoxen Inrithi knieten vor ihren Behelfsschreinen nieder.
Esmenets Kummer schlug jäh in Bedauern um. Warum konnte sie Serwë diesen Moment der Freude nicht gönnen, da sie ihr doch in der Wüste bereitwillig Wasser und damit fast ihr Leben gegeben hatte? Empfand sie etwa Eifersucht? Nein. Eifersucht gab den Lippen etwas Verbittertes, und sie spürte keine Verbitterung.
Oder etwa doch?
Kellhus hat Recht … Wir wissen nicht, was uns antreibt.
Über die bekannten Motive des Handelns hinaus gab es stets weitere, die einem entgingen.
Der Schlamm unter ihren Füßen fühlte sich kalt an – ganz anders als der brennendheiße Wüstensand.
Schreie aus einem nahen Zelt schreckten sie auf. Ihr war sofort klar, dass da jemand an Aushöhlung litt. Zwar wich sie gleich zurück, musste dabei aber den Drang niederkämpfen, nachzusehen, wer es sein mochte, und ihm Trost zu spenden.
»Bitte…«, keuchte eine schwache Stimme. »Ich brauche… Ich brauche…«
»Ich darf dir nicht helfen«, sagte sie und starrte entsetzt auf die im Dunkeln liegende Hütte aus Leder und Zweigen, aus der die Stimme drang. Kellhus hatte die Kranken isoliert und erlaubte nur Überlebenden früherer Epidemien, die Infizierten zu besuchen, da der Furchtbare Gott die Krankheit durch Läuse übertragen lasse.
»Bitte…«
»Ich darf nicht… Versteh doch – es ist verboten.«
»Er kann dich nicht hören…«
Das war Kellhus. Sie spürte, wie er sie umarmte und wie sein seidiger Bart über ihren Nacken strich. Diese Zuwendung kam beinahe überraschend.
»Sie hören nur ihr eigenes Leiden«, erklärte er.
»Wie ich«, sagte Esmenet, die plötzlich ein schlechtes Gewissen hatte. Warum war sie davongelaufen?
»Du musst stark sein, Esmenet.«
»Manchmal fühle ich mich stark und wie ein neuer Mensch, aber dann…«
»Du bist ein neuer Mensch. Aber deine Vergangenheit bleibt deine Vergangenheit, Esmenet. Dein altes Ich bleibt dein altes Ich. Vergebung zwischen Fremden braucht Zeit.«
Wie schaffte er es nur, ihr so mühelos aus dem Herzen zu sprechen?
Doch sie wusste die Antwort – zumindest glaubte sie das.
Kellhus hatte ihr mal gesagt, Menschen seien wie Münzen, hätten also zwei Seiten. Während die eine Seite sehe, werde die andere gesehen, und obwohl alle stets beide Seiten besäßen, könnten sie nur die Seite von sich wirklich kennen, die sehe, und nur die Seite von anderen, die gesehen werde, könnten also nur ihre innere Hälfte und die äußere Hälfte anderer wahrnehmen.
Zuerst hatte Esmenet das für Unsinn gehalten und geglaubt, die innere Hälfte sei das Ganze, das von anderen nur unvollständig wahrgenommen werde. Doch Kellhus hatte sie gebeten, Revue passieren zu lassen, was sie an anderen beobachtet habe. Wie viele unbewusste Fehler und Charakterschwächen seien ihr dabei aufgefallen? Wie viel Überheblichkeit, die sich in beiläufigen Bemerkungen bekundete? Wie viele Ängste, die im Gewand schneidiger Urteile daherkamen?
Die Fehler eines jeden Menschen, seine Grenzen mithin, waren in den Augen all derer zu lesen, die ihn beobachteten. Darum schien jeder so verzweifelt bemüht, sich durch Verstellung das Wohlwollen ‘ anderer zu sichern. Ihnen allen war intuitiv klar, dass sie nur die Hälfte des Menschen sahen, der sie wirklich waren. Und sie wollten unbedingt ganz sein.
Wie weise einer war, hing laut Kellhus davon ab, wie nah die beiden Hälften eines Menschen beieinander lagen.
Erst später hatte sie diese Überlegungen auf Kellhus angewandt und schockiert, aber ganz und gar nicht überrascht erkannt, dass ihr bei all seinen Taten und Worten nicht ein einziges Mal ein Fehler aufgefallen war. Genau das ließ ihn so grenzenlos erscheinen wie die Welt, die sich von der kleinen Kreislinie rund um ihre Füße bis zu der großen, stets unerreichbaren Kreislinie namens Horizont erstreckte. Er war zu ihrem
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