Der Prinz von Atrithau
Padirajah.
Der Pfad, Vater…Wo verläuft er?
Wie oft er sich auch der Wahrscheinlichkeitstrance unterwarf: Alle Linien waren ausradiert – sei es infolge der vielen Katastrophen, sei es aufgrund der ungemeinen Veränderungen. Es gab zu viele Variablen und viel zu viele Möglichkeiten.
In den letzten Wochen hatte er all seinen Einfluss spielen lassen, um zu verhindern, was immer unvermeidlicher schien. Von den Hohen Herren unterstützte ihn nur noch Saubon offen. Zwar weigerte Proyas sich noch, sich Conphas’ Adelskoalition anzuschließen, ließ aber jeden Annäherungsversuch von Kellhus abblitzen. Bei den einfachen Männern des Stoßzahns wuchsen die Gräben zwischen den Zaudunyani und den Orthodoxen, wie sie sich inzwischen nannten. Und die Gefahr neuer, kühnerer Angriffe der Rathgeber machte es ihm unmöglich, sich frei unter den Inrithi zu bewegen, wie er es hätte tun müssen, um die zu bestärken, die sich zu ihm bekannt hatten, und die zu erobern, die ihm ablehnend gegenüberstanden.
In der Zwischenzeit starb der Heilige Krieg.
Du hast mir gesagt, mein Pfad sei der kürzeste… Er hatte die kurze Begegnung mit dem Boten der Cishaurim nun unzählige Male durchlebt, analysiert und mal so, mal anders interpretiert, war aber nicht weitergekommen. Jeder Schritt führte ins Dunkle – egal, was sein Vater sagte. Jedes Wort bedeutete ein Risiko. In vieler Hinsicht schien er nicht anders als seine Umgebung zu sein.
Was hat es mit dem Tausendfältigen Gedanken auf sich?
Erst stieß Fels auf Fels, dann war eine kleine Kaskade aus Kies und Schotter zu hören. Kellhus spähte angestrengt ins Dunkel am Fuße der Ruine, deren Mauern ein dachloses Labyrinth bildeten, in das das bleiche Mondlicht nicht hinabreichte. Ein Schatten kletterte übers Geröll, und er erkannte ein rundes Gesicht im Sternenlicht.
»Esmenet, wie hast du mich gefunden?«
Ihr Lächeln kündete von purem Übermut, doch Kellhus sah die darunter liegende Besorgnis.
Sie hat noch nie jemanden so geliebt wie mich. Nicht mal Achamian.
»Werjau hat mir gesagt, dass du hier bist«, antwortete sie und suchte sich einen Weg nach oben, entlang der zerstörten Mauer.
»Ach so«, meinte Kellhus und verstand sofort. »Er hat Angst vor Frauen.«
Esmenet schwankte einen Moment lang, ruderte mit den Armen und fing sich wieder. Kellhus merkte erstaunt, dass er unwillkürlich den Atem angehalten hatte. Ihr Sturz wäre tödlich gewesen.
»Nein«, rief sie, konzentrierte sich einen Moment lang und kam in kleinen tänzerischen Sprüngen die verbliebene Strecke hinauf. »Er hat Angst vor mir!« Sie warf sich lachend in seine Arme. Sie hielten sich auf der dunklen, windigen Höhe fest umschlungen. Eine Stadt und eine Welt umgaben sie: Caraskand und das Gebiet der Drei Meere.
Sie weiß es… Sie weiß, dass ich zu kämpfen habe.
»Wir alle haben Angst vor dir«, sagte Kellhus und wunderte sich darüber, dass seine Hände feucht waren.
Sie kommt, um mich zu trösten.
»Du erzählst die köstlichsten Lügen«, murmelte sie und gab ihm einen Kuss.
Die neun Nascenti – die Meisterschüler des Kriegerpropheten – trafen kurz nach der Abenddämmerung ein. Ein großer Tisch aus Teak- und Mahagoniholz, der ihnen bis zu den Knien reichte, stand auf der Terrasse des Kaufmannspalasts, den Kellhus zum Stützpunkt und Zufluchtsort gewählt hatte. Esmenet hielt sich unbemerkt im dunklen Garten auf und beobachtete, wie die Besucher niederknieten oder sich mit gekreuzten Beinen auf die Kissen setzten, die um den Tisch verteilt lagen. In diesen Tagen stand fast allen Sorge ins Gesicht geschrieben, doch diese Besucher wirkten besonders mitgenommen. Aufgabe der Nascenti war es, die Arbeit der Zaudunyani zu organisieren, neue Richter zu weihen und die Grundlagen des Ministrats zu legen. Esmenet nahm an, dass diese Männer die Schwierigkeiten, in denen der Heilige Krieg steckte, besser kannten als die meisten anderen.
Die Terrasse lag auf der Nordseite der Bullenhöhe und bot einen Blick auf den größeren Teil der Stadt. Die labyrinthischen Straßen und Gassen des Potts, des Herzstücks von Caraskand, zogen sich fünf Hügel hinauf, doch es schien umgekehrt, als hinge ein an diesen fünf Höhen befestigtes Tuch in der Mitte durch. Im Osten ragte die zerstörte Zitadelle in den Himmel, und das Auf und Ab ihrer gesprengten Mauern wirkte im Mondlicht wie in Kupfer gestochen. Im Nordwesten erstreckte sich der Palast des Sapatishah über die Kniende Höhe, die niedrig genug war,
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