Der Prometheus-Verrat
kurz den festen Halt des Aufsatzes, kroch unerkannt zurück unter den Lieferwagen, schlüpfte ins Innere und schloss die Luke hinter sich zu.
» Nu, khorosho? «, fragte Tarnapolski. Alles okay?
» Ladno «, antwortete Bryson. Bestens.
Tarnapolski funkte den Fahrer des Tiefladers an und rief ihn zu dem verlassenen Fahrzeug zurück. Es war auch höchste Zeit, denn die Polizei kam bereits mit heulenden Sirenen herbeigefahren.
Wenige Minuten später setzte sich der Verkehr allmählich wieder in Bewegung. Die Huperei und das Geschimpfe verebbten. Der Bentley rollte an, fuhr noch ein Stück den Kalinin Prospekt entlang und bog dann, wie erwartet, nach links in eine ruhige Seitenstraße ein.
Genau in diesem Moment drückte Bryson auf den Knopf der Fernsteuerung, die er in der Hand hielt. Weil Tarnapolski dicht auffuhr, war die unmittelbare Reaktion gut zu erkennen. Dichter weißer Rauch füllte den Fahrraum: Tränengas. Der Bentley schleuderte von einer Straßenseite auf die andere, bevor er endlich an den Bordstein heranfuhr und anhielt. Gleichzeitig flogen Fahrer- und Fondtür auf. Würgend und hustend sprangen der Chauffeur und Labow aus dem Wagen, die Hände vor die brennenden Augen geschlagen. Der Fahrer hielt eine Pistole in der Faust, konnte aber nichts damit anfangen. Juri Tarnapolski bremste scharf ab und kam hinter dem Bentley zum Stehen. Kaum war Bryson aus dem Wagen gesprungen, gab er einen Schuss auf den Chauffeur ab, der sofort in die Knie ging und zu Boden stürzte. Das über den Bolzen injizierte Betäubungsmittel würde ihn für Stunden außer Gefecht setzen und außerdem dafür sorgen, dass er sich danach kaum oder gar nicht an das erinnern würde, was an diesem Abend vorgefallen war. Dann rannte Bryson auf Labow zu, der, keuchend und vorübergehend blind, auf dem Gehweg kauerte. Derweil schleppte Tarnapolski den bewusstlosen Fahrer zum Bentley
zurück, hievte ihn hinters Steuer und flößte ihm ein gutes Quantum billigen Wodkas in den Mund, Fusel, den er an einer Straßenecke gekauft hatte und von dem er absichtlich auch einiges auf die Livree verkleckerte. Die halb leere Flasche warf er auf den Beifahrersitz.
Bryson schaute sich um, um sicherzustellen, dass sich kein Zeuge in der Nähe befand. Dann packte er Labow bei den Schultern und schleifte ihn auf die Ladefläche des Lieferwagens. Diesen würde mit Sicherheit niemand wiedererkennen, denn erstens fuhren Hunderte solcher Kisten in Moskau herum und zweitens waren die Kennzeichen völlig verschmutzt und somit unleserlich.
Es war kurz vor acht Uhr, als sie Dimitri Labow auf einem harten Metallstuhl festgebunden hatten. Sie befanden sich in einer verlassenen Lagerhalle im Tscherjomuschki-Distrikt unweit des Großmarktes für Früchte und Gemüse. Die Halle war von der Stadtverwaltung konfisziert worden, nachdem sich der Eigentümer, das Oberhaupt eines Tartarenclans, dabei hatte erwischen lassen, dass er Restaurants mit seinen Waren schwarz belieferte, ohne die zuständigen Beamten entsprechend geschmiert zu haben.
Labow war ein kleiner Mann mit Brille, rundem, fülligem Gesicht und schütteren strohblonden Haaren. Bryson stand vor ihm und sprach ihn auf perfektem Russisch an – der leichte St.-Petersburg-Akzent war ein Erbe seines Russischlehrers beim Direktorat. »Ihr Abendessen wird kalt. Wir würden Sie gern zu Hause abliefern, bevor Ihre Frau anfängt, sich Sorgen zu machen. Wenn Sie mitspielen, wird niemand je erfahren, dass Sie entführt worden sind.«
»Was?«, blaffte Labow. »Machen Sie sich doch nichts vor. Mittlerweile weiß alle Welt Bescheid. Mein Fahrer …«
»Ihr Fahrer parkt am Straßenrand, sitzt hinterm Steuer und schläft tief und fest. Wenn die Miliz vorbeikommt, wird sie annehmen, dass er betrunken ist – wie jeder zweite Moskowiter.«
»Wenn Sie mir irgendwelche Drogen eintrichtern wollen, bitte sehr«, sagte Labow trotzig. »Wenn Sie mich foltern
wollen, nur zu. Oder bringen Sie mich doch gleich um. Falls Sie die Nerven dazu haben. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wen Sie vor sich haben?«
»Natürlich«, antwortete Bryson. »Darum sitzen Sie ja hier.«
»Haben Sie eine Ahnung, welche Konsequenzen Ihnen blühen? Wissen Sie, wessen Zorn Sie mit dieser Aktion heraufbeschwören?«
Bryson nickte langsam.
»Anatoli Prischnikows Wut kennt keine Grenzen. Auch keine Landesgrenzen.«
»Genosse Labow, seien Sie versichert, ich werde Ihnen kein Haar krümmen, auch nicht Ihrer Frau Mascha. Oder der kleinen Iruschka.
Weitere Kostenlose Bücher