Der Prometheus-Verrat
entschlossen, ihr so lange zu folgen, bis die italienischen Brüder – und wer ihm sonst noch im Nacken saß – abgeschüttelt waren. Es gab hier offenbar viele Hinterhöfe und Seitengassen, ein wahres Labyrinth, das viele Möglichkeiten bot, sich zu verstecken.
Seine Schulter schmerzte mittlerweile höllisch; das Blut sickerte warm durch den Verband. Was schon zu heilen angefangen hatte, war wieder aufgerissen. Trotz aller Schmerzen zwang er sich zur Eile. Layla hielt anscheinend mühelos Schritt. Ihre Schritte hallten von den Mauern wider. Im Laufen hielt er aufmerksam Ausschau nach einem günstigen Unterschlupf. Schließlich gelangten sie an eine kleine romanische Kirche, die zwischen einigen noch älteren Steinhäusern stand. Die Pforte war abgesperrt. An der schweren Holztür hing ein handgeschriebenes Schild mit dem Hinweis,
dass die Kirche wegen Reparaturarbeiten vorübergehend geschlossen sei. In Santiago, der Stadt der Kirchen und Kathedralen, kamen kleinere, touristisch weniger attraktive Gotteshäuser wahrscheinlich eher zu kurz, was Instandhaltung und Pflege anging.
Bryson trat auf die Kirchentür zu und rappelte an der schweren eisernen Klinke.
»Was haben Sie vor?«, fragte Layla. »Machen Sie doch nicht so viel Krach. Los weiter, wir müssen weiter.« Sie atmete schwer und ihr Gesicht war gerötet. Schritte hallten in der Gasse; sie kamen näher.
Bryson antwortete nicht. Er riss noch einmal mit Macht am Türgriff. In dieser frommen Pilgerstadt war mit Kircheneinbrüchen nicht zu rechnen, und so hatte das kleine, verrostete Vorhängeschloss offenbar nur symbolische Bedeutung; es steckte in einem Schließhaken, der noch verrosteter war und nun splitternd aus der Tür herausbrach.
Er riss die Tür auf und betrat die dunkle Vorhalle. Layla stöhnte frustriert, folgte aber und zog die Tür hinter sich zu. Durch ein kleines Sprossenfenster hoch oben in der Wand fiel spärliches Licht in den düsteren, muffigen Raum. Bryson warf einen Blick in die Runde und stellte sich dann mit dem Rücken vor die kalte Steinwand. Die Anstrengung hatte seinen Puls in die Höhe getrieben, und er fühlte sich geschwächt vom Blutverlust und durch den brennenden Schmerz in der Schulter. Layla eilte durch das Kirchenschiff, offenbar auf der Suche nach einem geeigneten Versteck.
Als er nach ein, zwei Minuten wieder zu Atem gekommen war, kehrte er zur Eingangstür zurück. Den Anwohnern und all denjenigen, die sich in diesem Viertel auskannten, würde das aufgebrochene Schloss womöglich auffallen. Es musste darum wieder provisorisch zusammengesteckt oder gänzlich entfernt werden. Bryson wollte gerade die Tür öffnen, als er Schritte hörte.
Da eilte jemand im Laufschritt herbei; gleichzeitig meldete sich eine Stimme, in einer Sprache, die weder spanisch noch galizisch war. Bryson starrte auf den schmalen Lichtstreifen unter der Türfüllung und lauschte.
Die Sprache war ihm entfernt bekannt.
» Niccolò, o crodevi di velu viodût! Jù par che strade cà. Cumò o controli, tui continue a cjalà la plaza !«
Er verstand: Niccolo, ich glaube, ich hab ihn gesehen! , sagte die Stimme. Er ist die Straße runter. Halt du den Platz im Auge .
Es war das eigentümliche Friaulisch, eine aussterbende Mundart, die Bryson seit Jahren nicht gehört hatte. Manche bezeichneten diese Sprache als einen italienischen Dialekt; andere hielten sie für eine eigenständige Sprache. Sie wurde nur im äußersten Nordosten Italiens von einer immer weiter abnehmenden Zahl dort ansässiger Bauern gesprochen.
Seine außergewöhnlichen Fremdsprachkenntnisse hatten sich schon häufig in kritischen Situationen bewährt und waren ebenso hilfreich wie sein geübter Umgang mit Feuerwaffen. Vor rund zehn Jahren hatte er etwas Friaulisch gelernt, als er zwei junge Bauern aus den abgelegenen Bergen oberhalb von Cividale angeheuert hatte. Brüder mit ausgeprägten Jagdinstinkten. Um Paolo und Niccolo Sangiovanni unter Kontrolle halten zu können, hatte Bryson damals durch Zuhören viel von der seltsamen Mundart der beiden aufgeschnappt, ohne sie wissen zu lassen, dass er ihren Gespräche immer besser folgen konnte.
Ja. Es war Paolo, der die Schießerei auf der Praza do Obradoiro offenbar überlebt hatte und sich nun rufend mit seinem Bruder Niccolo verständigte. Die beiden Italiener waren hervorragende Jäger und hatten damals alle von ihm gestellten Aufgaben zu seiner vollsten Zufriedenheit ausgeführt. Ihnen zu entwischen würde nicht leicht sein.
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