Der Prophet des Teufels
ein, um die Szene zu vertuschen.
Im März 1937 hebt in Wien ein heruntergekommener Croupier die Pistole gegen seine Frau, gegen sein Kind, gegen sich selbst. Dreimal kommt der Tod.
Die Frau hieß Grace …
Einer wird kommen. Jeden Abend ein anderer. Um zehn Uhr fordert er zum ersten Tanz auf. Um elf Uhr berichtet er, daß ihn die ganze Welt mißversteht. Um Mitternacht wird er zärtlich. Er bestellt Sekt, und danach macht er fast immer so etwas wie einen Heiratsantrag. Am Ende, gegen vier Uhr früh, will er immer das gleiche.
Grace Cameron, der rassigen dunkelhaarigen Eintänzerin mit dem Titel einer belgischen Schönheitskönigin, hängt der zwielichtige, ein wenig abgenutzte Glanz des alltäglichen Nachtlebens zum Halse heraus. Sie stammt aus England und lebt in Berlin. Wie sie an die Spree gekommen ist, weiß sie, genau betrachtet, selbst nicht mehr. Sie ist Eintänzerin im ›Palais de Danse‹. Das ist die letzte Station vor dem großen Abrutsch.
Die Kapelle leiert ihr Repertoire herunter. In zehn Minuten ist Pause, und die Musiker bekommen Heringssalat mit Brötchen. Die Drehtür spült eine Anzahl Männer in das Lokal. Die Tischdamen sehen sich um: Wer die Wahl hat, hat die Qual … Sie haben es sich abgewöhnt, zimperlich zu sein. Sie greifen beherzt, wenn auch mit wenig Appetit, zu. Die Brieftasche bestimmt die Rangordnung. Das ist nicht schön, aber nützlich.
»Ich küsse Ihre Hand, Madame«, spielt die Kapelle, und fünfzehn gewohnheitsmüde Tanzmädchen setzen sich in Trab. Grace ist an einen rundlichen Schreibmaschinen-Vertreter aus Mecklenburg geraten. Sowie die ölige Stimme des Sängers einsetzt, versucht er, ihren Rücken zu streicheln. Grace merkt es zuerst gar nicht. Sie tanzt an Kolleginnen vorbei, lächelt ihnen zerstreut zu und wartet auf das Ende des Lieds. Sie geht mit großen, schnellen Schritten an ihren Tisch zurück. Den Mecklenburger läßt sieweit hinter sich. Sie ist schlechter Laune heute.
Neue Männer betreten das Tanzlokal. Wie sie sich auffällig-unauffällig umsehen, wie sie auf vornehm machen und dabei auf Beute Ausschau halten! Wie sie sich salopp geben, während sie überschlagen, wo die Preise am niedrigsten und die Aussichten am höchsten sind!
Und dann kommt ein einzelner. Er ist mittelgroß und semmelblond. Er hat blaue, selbstsichere Augen. Er geht auf den nächstbesten Tisch zu, bestellt etwas, ohne auf die Getränkekarte zu warten. Er sieht gut bis sehr gut aus. Aber Tausende sehen sehr gut aus. Er ist anziehend. Aber Tausende sind anziehend. Was ist los mit Grace Cameron? Warum starrt sie den Mann so plump, so unbeherrscht, so dilettantisch an? Warum läßt sie, der hübsche, gewandte, abgebrühte Star des Tanzpalais', an diesem Abend alle fetten Gelegenheiten sausen?
Der blonde Herr sieht von seinem Schnapsglas auf. Sein Blick trifft Grace. Er schreckt aus seinen Gedanken hoch. Er steht auf. Grace steht auf. Gleichzeitig gehen sie aufeinander zu. Sie handeln wie unter Zwang, wie unter Hypnose. Sie treffen sich genau auf halbem Weg.
»Haben Sie etwas Zeit für mich?« fragt der Herr.
Sie nickt. Sie nehmen Platz. Sie haben sich kennengelernt, wie man sich in Lokalen dieser Art kennenlernt. Und doch war es ganz anders.
»Wie heißen Sie?« fragt Grace.
»Ismet.«
»Das klingt südländisch.«
»Ich stamme auch aus dem Süden.«
Sie lächeln sich an.
»Was treiben Sie?« fragt Grace.
»Nicht viel«, erwidert ihr Partner. »Ich bin weniger als ein Direktor, verdiene aber mehr.«
»Der Mensch verdient, was er verdient«, entgegnet das Mädchen.
Sie tanzen. Sie passen gut zusammen, wie sie aneinandergeschmiegt durch den Saal gleiten, Figuren wagen, einander anlächeln. »Die bist du los für heute«, sagt ein Mann mit verkniffenem Gesicht und schlägt dem dicken Mecklenburger fest auf die Schulter.
»Es ist scheußlich hier«, meint Grace.
»Ich kenne das«, erwidert Ismet. »Nehmen Sie einen Rat von mir an: Hören Sie auf! Jetzt sind Sie jung, schön. Sie wissen, daß es auf der Welt noch etwas anderes gibt als diese verschossenen Samtvorhänge, die nach Rauch riechen, etwas anderes als Männer, die ihre Eheringe in die Westentasche stecken, und Geschäftsführer, die einen täglichen Mindestumsatz verlangen. In Jahren, vielleicht in Monaten schon können Sie nicht mehr ausbrechen. Falten werden Sie im Gesicht haben, Ihre Augen werden müde, Ihre Haut wird gelb, und Ihre Hand wird zittern. Sie werden rauchen, trinken und fluchen wie ein
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