Der Protektor (German Edition)
der auf dem Stuhl sitzt.
Ich stehe auf und gehe langsam um den Schreibtisch herum. Eine unscheinbare Entdeckung, aber interessant als Fakt. Dafür gibt es wenigstens zwei Erklärungen. Die erste ist, dass es bei dem hier überall herrschenden Chaos nicht verwunderlich wäre, wenn sie schon immer so dagelegen hätten. Die zweite ist, dass sie vor kurzem herumgedreht wurden. Sogar vor ganz kurzem.
Das bedeutet, dass derjenige, der die Bücher durchsucht hat, sich nicht für die Berichte und wissenschaftlichen Notizen interessiert hat, die obenauf liegen, sondern etwas anders gesucht haben muss. Und außerdem nicht viel Zeit hatte. Aber ich habe auch nicht viel Zeit. Ich suche auch etwas Bestimmtes. Eins nach dem anderen ziehe ich die Schubfächer auf, wühle in dem nutzlosen Kleinkram. Den wegzuwerfen ihm leidgetan hat, der ihm aber zu nichts mehr nütze war.
Unten, im letzten Schubfach, finde ich ein Holzkästchen mit Stichen aus Frankreich, dessen Farbe stellenweise verblichen ist. Ich öffne es, drinnen sind Medikamente. Ich nehme die Fläschchen und Ampullen heraus und betrachte sie aufmerksam.
Das ist es, was ich suche, und das Kästchen will mir gar nicht gefallen. Draußen ist schon Nacht, es ist zehn durch, und Doktor Falk wartete sicherlich schon längst auf meinen Anruf.
Den Schreibtisch muss ich mir noch einmal vornehmen. Jetzt stehe ich auf und verlange von der Zentrale die Nummer von Doktor Falk. Ich bitte sie, ins Foyer herunterzukommen, falls es ihr nichts ausmacht, ich werde in ein paar Minuten dort sein. Sie willigt ein, zögert jedoch kaum merklich – ich weiß nicht, warum.
Doktor Falk treffe ich indes nicht im Foyer, sondern bereits auf der Etage. Ich habe zu Ende gebracht, was in Doktor Bressons Zimmer zu erledigen war, und das hat länger gedauert als die paar angegebenen Minuten. Ich verlasse das Zimmer und sehe eine Frau um die Ecke biegen.
Sie bleibt stehen – offensichtlich kann jetzt niemand sonst aus Bressons Zimmer kommen. Ich gehe auf sie zu und stelle mich vor.
Sie ist eine sympathische Frau. Über vierzig, vielleicht fünfundvierzig, von jenem Typ ruhiger, selbstsicherer Frauen, bei denen man sich auch ruhig fühlt. Kluge, gesprenkelte Augen, dunkelbraunes Haar (nicht ohne Hilfe der Chemie, versteht sich) und verräterische Fältchen um die Augen. Kein bisschen affektiert, sie ist ganz natürlich, eine seriöse Frau, die sich ihres Wertes bewusst ist.
Wir wechseln allgemeine Redensarten zum Tod von Bresson. Danach schlage ich vor – falls sie möchte und es für sie nicht zu spät ist – irgendwo hinzugehen, wo wir ein belegtes Sandwich essen und reden können. Inzwischen hat mein Magen angefangen, sich in Erinnerung zu bringen. Das Frühstück im Flieger war nicht gerade üppig.
„Ja, gern“, sagt Doktor Hanna Falk.
Wir gehen den Korridor entlang, und während wir vor dem Fahrstuhl warten, erkundige ich mich nach den Leuten.
„Wir wohnen alle hier in dieser Etage“, erklärt Doktor Falk. „Doktor Leo Hausen in dreihundertacht neben dem Zimmer von Doktor Bresson. In dreihundertvier sind Nora und Tyra, unsere Laborantinnen. Tyra hat mit Doktor Bresson zusammengearbeitet, sie ist seit gestern einfach außer sich.“
Ich sage sinngemäß, dass das Unglück wahllos zuschlägt.
Doktor Falk sieht mich einen Moment an.
„Wir untersuchen jeden Unfall“, antworte ich auf diesen Blick.
Das ist so. Für jetzt zumindest.
Inzwischen kommt der Fahrstuhl. Während wir hinunterfahren, fügt Doktor Falk hinzu: „Weil Sie gefragt haben… Ich wohne in dreihundertdrei, am Ende des Korridors.“
303,304,308… Ich muss mir die Lage der Zimmer ansehen.
Obwohl derjenige, der Bresson beobachtet hat, wohl kaum ein Zimmer in seiner Nähe ausgesucht hat.
Unten im Foyer sitzt der junge Mann von der Rezeption da und füllt irgendwelche Listen aus. Er lächelt berufsmäßig und nimmt die Schlüssel entgegen. An der Bar sind es weniger Gäste geworden, doch der helle Kreis flackert weiter im Rhythmus der Musik.
Draußen flimmert die strenge Kirche in goldfarbenem Licht. Wahrscheinlich ist irgendwo in der Nähe ein Kino oder Theater, und die Vorstellung ist gerade aus, denn über den Platz flutet ein Menschenstrom, der in den einmündenden Straßen versickert.
Doktor Falk führt mich zu einer Tür, über der in grell grüner Leuchtschrift „Snack-Bar“ steht. Der Schriftzug ist ganz im Stil des Lokals, mit leicht prätentiösen Schnörkeln. Jetzt, nach dem Kino, herrscht in der Bar
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