Der Protektor (German Edition)
isländischer Flechten und streifen mein Gesicht. Oben klatschen die ersten Regentropfen auf Zweige und Blätter.
Der Regen kümmert mich jetzt nicht. Ich muss jemanden finden, ich weiß, dass es schrecklich wichtig ist, ihn zu finden.
Aber ich habe vergessen, wen. Die Erregung durchdringt jede Zelle meines Körpers. Ich laufe über den Pfad, die Äste halten mich zurück, aber ich winde mich zwischen ihnen hindurch.
Die Wurzeln krümmen sich wie Finger, die Flechten weichen über mir zurück, und der Wald ist auf einmal zu Ende. Ich stehe auf einer kleinen Lichtung. Dahinter senkt sich ein feuchter, sandiger Hang zu einem See hinunter; er ist grau und düster wie die Wolken, aus denen es regnet. Der Regen gießt, Bläschen springen hoch und spritzen über das dunkel gewordene Wasser, der See ist wie lebendig.
Jemand geht mit dem Rücken zu mir am Ufer entlang.
Das ist Yanni, nur kann ich sein Gesicht nicht sehen. Er ist es!
Ihn musste ich finden. Und er ist wie immer – klein, still, irgendwo unterwegs.
Aber wieso Yanni? Er kann es nicht sein, Yanni ist tot, ich weiß genau, dass er tot ist, und deshalb bin ich hier.
Es regnet. Die Tropfen klatschen auf das Wasser, die Silhouette des Mannes am Ufer verschwimmt, ich rufe… und wache auf.
Es ist dunkel. Die blauen und gelben Lichter von der Straße rinnen in dünne Bächlein über die Scheiben.
Ich liege da und lausche dem Regen. Wann es sich abgekühlt hat, habe ich nicht gemerkt, aber in Krongatan regnet es. In unsichtbaren Dachrinnen läuft und klingt das Wasser. In meinem Bewusstsein ringt noch der Traum vom See mit der Wirklichkeit, aber ich bin schon wach.
Im Traum habe ich Yanni als jungen Mann gesehen, und mir ist schwer ums Herz. Vielleicht sind wir wirklich einmal so gegangen, auf einem Ausflug irgendwo in den Ardennen oder anderswo, und dies war nur ein Widerhall aus der Vergangenheit. Aber gerade jetzt nach diesem Traum spüre ich, wie schlimm es ist, dass es ihn nicht mehr gibt und nie mehr geben wird. Auch ich werde gehen, wenn die Reihe an mir ist, und alle, die ihn kannten, aber niemand wird ihm mehr begegnen.
Das ist es. Die ewige Angst des Verstandes vor dem Tod.
Ich gebe mir Mühe, zu mir zu kommen. Einschlafen werde ich nicht mehr, also will ich wenigstens an etwas Vernünftigeres denken. Warum sollten wir uns vor dem Tod fürchten? Das ist einfach die Bedingung, die Grundvoraussetzung für das Leben – dass man sterben muss.
Draußen fahren vereinzelt Autos vorbei. Ihre grellen Lichter brechen sich an den Ecken, springen von Wand zu Wand. Ihre Reifen surren über den nassen Asphalt.
Ich muss an etwas Nützlicheres denken.
Wo ist Yanni ein Fehler unterlaufen? Das ist der Knoten der Falle. Wohin kann man seine Versuchstiere fälschlicherweise gegeben haben? Und weshalb das Wort „vier“?
Hätten sie etwa nicht am Leben bleiben sollen? Kann sein. Helene Traugott hat so etwas angedeutet, die Dosen seien zu stark gewesen. Und dennoch sind sie am Leben geblieben. Alles ist in den Protokollen festgehalten, da gibt es nichts Verborgenes… Nein, so geht es nicht!
Ein Labyrinth. Vielleicht sind wir beide, der andere und ich, der Lösung gleich nahe. Beide, er wie ich, wissen etwas Wichtiges, und wahrscheinlich fehlt gerade das, was der eine weiß, dem Gegenspieler. Wenn wir uns treffen und bei einem Glas Wein hinsetzen und vernünftig miteinander reden könnten!
Allein schon bei dem Gedanken muss ich im Dunkeln lächeln. Nachdem wir uns getroffen hätten, wäre einer von uns beiden ausgeschieden. Eher er. Sicherlich er. In der Welt der Wirtschaftsspionage gibt es keine mildernden Umstände. Dort ist alles klar. Die Zentrale zahlt und verlangt Leistung. Solange man seinen Gegner – jemand wie mich! – überlisten oder aus dem Weg räumen kann (was beinahe dasselbe ist!), ist man obenauf. Die Zentrale verlässt sich auf ihren Mann, und der verlässt sich auf die Chiffre seines Bankkontos. Und man macht sich etwas vor mit dem Gedanken an ein gesichertes Alter, eine Villa in der Schweiz und Sonnenaufgänge über der Jungfrau oder am Comer See.
So etwas gibt es nicht, jedenfalls nicht für die Kleinen. Man kann der Zentrale Hunderttausende eingebracht haben, aber einmal entgeht einem etwas, macht man einen kleinen Fehler. Ein Agent, der einen Fehler gemacht hat, ist ein toter Mann. Er läuft zwar noch auf dieser schönen Erde herum, frühstückt im „Hilton“, und die Kellner dienen vor der Banknote unter der Serviette, er besucht
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