Der Protektor von Calderon
auch kennen gelernt, als eine wütende Köchin ihre kleine Schwester angefallen hatte und Isana der Frau eine Ohrfeige versetzt und sie von Alia weggedrängt hatte. Isana stand der zornigen Köchin gegenüber, bis die Frau etwas vor sich hin murmelte und davonstürmte. Danach hatte Isana ihrer kleinen Schwester auf die Beine geholfen, und die beiden waren immerhin mit einer gewissen Würde davongegangen.
Ein Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte, trat auf sie zu und bot ihr Arbeit an, die Isana freudig angenommen hatte. Alles war besser als diese verfluchte Spülküche.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Isana noch keine Ahnung, dass sie und ihre Schwester gerade zu Dienerinnen der ranghöchsten Offiziere der Legion befördert worden waren: Sie waren damit den Singulares von Septimus und dem Princeps selbst unterstellt.
Später hatten sie zum ersten Mal miteinander gesprochen. Sie hatten sich verliebt, und sie hatten aus Liebe geheiratet - nicht aus politischen Gründen.
Überleben genügte nicht. Man musste leben.
Septimus hatte es nie ausgesprochen: Er hatte es einfach gelebt.
Septimus war leidenschaftlich entschlossen gewesen zu leben. So sehr, dass er dafür gestorben war.
Das Leben war ein gefährlicher Zeitvertreib, und leidvoll oft dazu - und dennoch gab es diese Freude am Leben, die Schönheit, die Dinge, die man sonst niemals sehen würde, niemals erleben, niemals wissen würde. Das Risiko, Schmerz und Verlust zu erleiden, gehörte zum Leben. Es erhöhte sogar seine Bedeutung; Schönheit war reiner und edler, Freude heller und inniger, Lachen tiefer und erfüllter - und Zufriedenheit umfassender und friedlicher.
In gewisser Weise hatte sie sich gegen Septimus gewandt, so, wie sie Tavi nach dem Tod seines Vaters erzogen hatte. Für sie
hatte der Schutz des Jungen im Vordergrund gestanden - ihr hatte Überleben alles bedeutet. Wie viel mehr hätte Tavi erlebt und gelernt, wenn sie eine andere Wahl getroffen hätte? Indem sie Tavis Dasein allein auf das Überleben beschränkte, hatte sie ihn vor manchem Leid bewahrt, doch ihm gleichzeitig anderes aufgebürdet, und ihn einiger Dinge beraubt, die ein Teil seines Lebens gewesen wären. Und sich selbst hatte sie damit auch beraubt.
Die Vergangenheit lag hinter ihr. Niemand konnte das ändern, was bereits geschehen war. Im Rückblick war es vielleicht nur ein anderer, langsamerer Weg zu sterben, wenn man die Wunden schwären ließ und sich in Trauer verlor. Das Leben schritt voran.
Leben.
Isana spürte ihr wildes Herzklopfen, das nicht allein von ihrer Angst hervorgerufen wurde. Auch sie verspürte diese Hochstimmung und Freude. Sie fühlte sich lebendiger in dieser gefährlichen Düsternis als in all den Jahren seit Septimus’ Tod.
Sie musste verrückt sein, es tatsächlich zu genießen.
Aber sie wäre eine Lügnerin gewesen, wenn sie die Anziehungskraft des Augenblicks bestritten hätte.
Der Druck auf ihren Schläfen nahm heftig zu und verschwand plötzlich. Isana wusste nicht, was genau geschehen war, aber plötzlich glitten sie schneller durchs Meer als jeder Hai, und Bächleins Gegenwart schwoll an. Isanas Sinne dehnten sich aus, explodierten und wurden so intensiv, dass sie einen Moment lang glaubte, der ganze Ozean sei plötzlich so kristallklar geworden wie eine Quelle in Calderon.
Sie spürte die schwere, benommene Gegenwart der Leviathane (um genau zu sein: dreiundzwanzig), und das endlose, seelenlose Kreisen der Haie (etwa dreihundert, vielleicht ein Dutzend mehr oder weniger). Sie führte sie am Schwanz eines anderen Leviathans vorbei und bemerkte die hellen, bunten Krustentiere, die über Krebse und Schuppen krabbelten, sie fand die Mactis dahinter und schoss vorwärts, unter dem feindlichen Schiff hindurch. Auf der anderen Seite stiegen sie auf, und Isana sorgte dafür, dass
sie die Oberfläche durchbrachen, ohne dabei ein Geräusch zu verursachen.
Die anderen schnappten nach Luft, weil sie so lange unter Wasser gewesen waren, und bemühten sich dennoch, leise zu atmen. Isana bewegte sich so schnell wie die Mactis und gerade außerhalb des Raums, in dem das Schiff durch Elementarkräfte vor den schlafenden Leviathanen verborgen wurde. Die Hexer der Mactis, so fiel Isana auf, wirkten in einem schmaleren Bereich auf das Wasser ein als die Hexer der Schleiche. Ihr Werk war nicht weniger verschlungen, doch arbeiteten sie natürlich unter ganz anderen Voraussetzungen - vermutlich, weil das Schiff so viel größer war als die Schleiche und mehr
Weitere Kostenlose Bücher