Der Puppenfänger (German Edition)
sie ihn insgeheim nannte, aus ihr gemacht hatte. Auf einem altertümlichen Schreibtisch stapelten sich mehrere Klassensätze unkorrigierter Deutscharbeiten. Sie wollten zwar so schnell wie möglich bearbeitet werden, blieben aber meistens so lange dort liegen, bis eine Elternbeschwerde die Schulleitung erreichte. Am Anfang ihres Lehrerdaseins hatte jeder Rüffel sie vor Scham in die Verzweiflung getrieben. Mittlerweile war sie an die unangenehmen Gespräche unter vier Augen, die der Rektor in regelmäßigen Abständen mit ihr führte, gewöhnt. Sie hatte auch akzeptiert, dass sie in einem verhassten Beruf gefangen war, in den ihr Vater sie hineingezwungen hatte, weil er selbst damit seinen Lebensunterhalt verdient hatte, wie schon sein Vater und sein Großvater.
Bis Heide eintraf, blieb ihr genügend Zeit, sich den Wintergarten und die Küche vorzunehmen. Sie ließ ihren Blick umherschweifen, registrierte schlagartig die Unordnung und den Schmutz, der nicht nur einige Tage alt war. Bald würden Thomas und sie heiraten, Kinder bekommen, eine Familie sein. Bis dahin musste sie durchhalten, einen fröhlichen Eindruck machen. Niemand im Dorf – auch Thomas nicht – durfte jemals erfahren, in welcher finanziellen Klemme sie steckte und wie viel Mühe es sie kostete, ihr Elternhaus zu halten und die liebenswerte, zufriedene Tochter des alten Buttenstett zu spielen.
Das Telefongespräch mit Heide und die Bitte um Hilfe hatte Beate bereits bedauert, noch ehe sie den Hörer aufgelegt hatte. Heides Aufenthalt würde mindestens einen Tag und eine Nacht ihrer Zeit kosten und somit wertvolle Stunden, die sie lieber mit Thomas verbracht hätte. Auch jetzt sollte sie bei ihm sein oder von einer gemeinsamen Zukunft mit ihm träumen und sich nicht sinnlose Gedanken über ungeputzte Fenster und dreckige Waschbecken machen.
Sie erhob sich, schlenderte in den Wintergarten, ließ den Blick umherschweifen, schaute in den wundervollen, verwilderten Garten und fühlte plötzlich etwas von dem Glück, dass bei ihr einziehen würde, sobald Thomas und sie verheiratet waren. Nach herrlichen, gemeinsamen Nächten würde sie jeden Morgen in diesem hellen Raum das Frühstück aufdecken und gemeinsam mit Thomas einen neuen Tag beginnen. Sollte sie Heide von ihm erzählen oder ihre Pläne erst einmal für sich behalten? Sie wog die Vor- und Nachteile ab, kam zu keinem Ergebnis, verirrte sich in weitläufigen Gedankengängen und fand den Ausgang erst eine ganze Weile später.
Sie seufzte und beschloss, die restlichen Räume bei ihrer Putz- und Aufräumaktion zu übergehen. Wen interessierte die Küche, das Bad oder ein Gästezimmer? Niemanden! Sie musste lediglich den Sonnenschutz etwas ausfahren, dann würde Heide nicht auffallen, dass die Wintergartenfenster dringend gereinigt werden mussten. Widerwillig zog sie ein Staubtuch aus der Hosentasche, wischte oberflächlich über die Fensterbank, ließ sich gleich darauf in einen Korbstuhl fallen und verhakelte sich erneut in dem Wirrwarr ihrer Phantasie- und Wunschwelt.
Seitdem Thomas und sie ein Paar waren, fühlte sie sich häufig, als bestünde sie aus zwei unterschiedlichen Menschen, die man wie zufällig zusammengesetzt hatte. Manchmal schwebte sie wie auf Wolken, sah die Zukunft rosarot, fühlte sich begehrenswert, und dann – ganz plötzlich – war sie antriebsarm und müde. Nur ungern gestand sie sich ein, dass diese Stimmungsschwankungen direkt mit dem zusammenhing, was sie insgeheim TT – Tommys Tick – nannte. War Thomas nett zu ihr und ließ sie nachts in seinem Bett schlafen, ging es ihr gut. Sobald er seinen Freiraum forderte und sie bat, ihn allein zu lassen, litt sie und war kreuz unglücklich.
Auf dem Tisch lag ein Fotoalbum. Sie griff danach und blätterte darin, bis sie fand, was sie suchte. Alles würde gut werden, tröstete sie sich, während ihre Augen liebevoll an seinem Gesicht hingen und sie sein Foto-Lächeln erwiderte. Auch Simone würde bald wieder glücklich sein und sich keine Sorgen mehr um Gerald machen müssen. Das Wichtigste war jetzt, nicht die Hoffnung zu verlieren. Alles würde gut werden. Man musste nur ganz fest daran glauben. Thomas war ihre letzte Chance. Eine andere Möglichkeit als eine Heirat mit ihm gab es für sie nicht, um dem ungeliebten Beruf zu entfliehen. Nichts auf der Welt war ihr gleichermaßen verhasst wie die grölende, unerzogene Schülerschar, die ihr keinen Respekt entgegenbrachte und sie langsam, aber sicher in den Wahnsinn
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