Der Puppenfänger (German Edition)
war von der Straße aus einzusehen. Auf der Rampe zur Garage stand ein roter Audi. Heide registrierte, dass Gebäude und Grundstück von mehreren Bewegungsmeldern, Kameras und einer Alarmanlage überwacht wurden. Sie fragte sich, wie Schöllen sein Grundstück an der Rückfront gesichert hatte, die direkt an einen Wald grenzte. Wahrscheinlich konnte man dort die Schwachstellen der Festung finden. Das Wäldchen war Heide bereits aufgefallen, als sie die Zufahrt zum Baugebiet erreicht hatte.
Sie fuhr zurück zur Landstraße, parkte ihren Wagen, tauschte ihre Pumps gegen die Gummistiefel, die im Kofferraum lagen, und beschloss, einen kleinen Spaziergang zu machen. Nach wenigen Metern auf einem Fahrradweg bog sie auf einen Feldweg ab, marschierte in Richtung Waldrand, ließ sich von ihrem Gespür leiten, erreichte das Wäldchen und durchstreifte eine längere Zeit das Unterholz, bis sie auf einen sandigen, schmalen Pfad stieß. Hier hatte ein Fahrzeug das Profil seiner Reifen in den Erdboden gedrückt. Sie folgte den Spuren und stand wenig später hinter einem beigefarbenen Passat und neben einem niedrigen Stacheldrahtzaun, der von einem Erwachsenen bequem zu übersteigen war.
El mundo es un pañuelo ! Die Welt ist ein Taschentuch, frotzelte Heide im Stillen, als sie das Nummernschild betrachtete. Es zeigte ein NOH für die Kreisstadt der Grafschaft Bentheim. Von den Ansässigen wurden diese Buchstaben auch mit N ord- O st- H olland übersetzt, weil die Niederländer den Landkreis nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als Kriegsreparation eingefordert hatten.
Heide betrachtete die rückwärtige Gebäudefront des weißen Klinkerbaus. Schöllens Haus besaß einen umlaufenden Balkon, mehrere Erker in Ober- und Erdgeschoss und einen riesigen Wintergarten, dessen Schiebetüren weit geöffnet waren. Leise Musik drang zu ihr herüber und verbreitete eine stimmungsvolle Atmosphäre. Heide erkannte die einschmeichelnde Stimme der Sängerin Amy Macdonald, hörte im Hintergrund das Lachen eines Mannes, gleich darauf das einer Frau. Wenig später erblickte sie durch ein höher liegendes Fenster, wahrscheinlich das einer Küche oder eines Arbeitszimmers, Simone Schöllens blonden Lockenkopf und, ihr gegenüber, das Profil eines Brillenträgers. Sie beobachtete die beiden und registrierte, als sie sich umarmten und küssten, dass sie fast gleich groß waren.
Ihrer Haarfrisur war Beates Schwester treu geblieben, ihrem Ehemann offenbar nicht, überlegte Heide. Dass es sich bei dem Brillenträger nicht um Schöllen handelte, war offensichtlich.
Auf dem Rückweg telefonierte sie ein zweites Mal an diesem Tag mit Helen und gab ihr das Kennzeichen des Passats durch. Nachdem sie ihre Stiefel aus, und die Schuhe angezogen hatte, setzte sie sich in ihren Golf, brachte Ordnung in ihre zerzausten Haare, tuschte die Wimpern, zog den Lippenstift nach und wartete auf Helens Rückruf. Als sie den Namen des Fahrzeughalters erfahren hatte, setzte sie ihre Fahrt fort. Der Passat war zugelassen auf Richard Wanner, Bauingenieur, wohnhaft in Nordhorn.
*
Richard Wanner saß auf einem Hocker an der Küchenbar, den Blick auf Simone gerichtet. Sie putzte Gemüse und schnitt Kartoffeln und Karotten in gleichmäßig dicke Scheiben, ordentlich, akkurat, gewissenhaft, wie sie jede Arbeit verrichtete. Er konnte ihr stundenlang zusehen, ganz gleich, womit sie sich beschäftigte. Sie hatte ihre Haare aus der Stirn gekämmt und im Nacken zu einem tiefen Pferdeschwanz zusammengebunden. Diese Frisur brachte ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen, der zierlichen Nase und den fein gezeichneten Augenbrauen besonders gut zur Geltung. Ab und zu blickte sie auf, schenkte ihm ein kurzes, melancholisches Lächeln und sagte ihm mit ihren blauen Augen, was sie für ihn fühlte. Richard erwiderte ihr Lächeln und war bemüht, sie wortlos, nur mit seinem Gesichtsausdruck, zu beruhigen. Er ahnte, woran sie dachte, und betete insgeheim, dass sie die kommenden Tage, möglicherweise sogar die nächsten beiden Wochen gemeinsam unbeschadet überstehen würden.
Meistens bewegte Simone sich ruhig und gelassen, unterbrach ihre Beschäftigung lediglich, wenn eines ihrer Kinder nach ihr rief. Doch seit dem letzten Montag war sie unruhig, und obwohl sie sich bemühte, diese Unruhe vor ihm zu verbergen, wollte es ihr nicht gelingen. Richard kannte sie gut, und er wusste, dass es ihr schwerfiel zu lügen. Er wusste auch, dass gerade diese Charaktereigenschaft, die er sehr
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