Der Puppenfänger (German Edition)
einem Regal, in dem die neuesten Angebote einer Kaffeerösterei ausgestellt waren.
Vielleicht würde Beate sich über ein Stückchen Kuchen zum Nachmittagskaffee freuen, überlegte Heide. Deswegen wollte sie der Bäckerei Lübhein den Vortritt gewähren, sich nach dem Kuchenkauf den Apotheker ansehen und möglicherweise zu guter Letzt im Friseurgeschäft Chic bei Dörte ein Haarpflegemittel kaufen. Am Abend ließ Beate sich vielleicht in die Gaststätte Zum alten Kaiser einladen. Im Wein lag schließlich die Wahrheit, und eben diese wollte Heide herausbekommen. Schon wenige Gläschen Alkohol konnten die Zunge lösen und die tollsten Sachen hervorbringen.
*
Als Heide die Bäckerei betrat, schlug ihr der Duft frisch gebackenen Brotes entgegen und erinnerte sie daran, dass sie seit einem spärlichen Frühstück, bestehend lediglich aus einer Tasse Kaffee und einem Keks, nichts gegessen hatte. Möglicherweise war der Streit mit Dieter ihr auf den Magen geschlagen.
Die Blusenträgerin, die ein kleines Namensschildchen oberhalb ihrer linken Brust auf dem weißen Stoff befestigt hatte, hieß Renate Lübhein und war somit die Geschäftsinhaberin. Sie zauberte ein entgegenkommendes Lächeln auf ihre Lippen und hob abwehrend den Arm, um den plattdeutschen Redeschwall einer älteren, zierlichen Dame zu stoppen, die auf der Sitzfläche eines Rollators Platz genommen hatte. Als ihre drohende Gestik keinen Erfolg zeigte und die Plaudertasche im gleichmäßigen Singsang weitersprach, ohne sie zu beachten, setzte Renate Lübhein lautstark ihre Stimme ein.
»Tante Martha! Bitte! Sei endlich ruhig.«
Tante Martha ließ sich nicht beirren und plapperte weiter. Dabei bekräftigte sie jeden gesprochenen Satz mit Armbewegungen und Kopfnicken. Lediglich ihre Füße standen regungslos und wie festgewachsen auf dem hellen Fliesenboden.
»Würdest du bitte einen Moment still sein, Tante Martha. Es ist Kundschaft gekommen.«
Tante Martha fuhr zusammen. Schwungvoll drehte sie Heide den Oberkörper entgegen und ließ dabei ihre kurzgeschnittenen, grauen Haare, die zu winzigen Löckchen gedreht waren, auf und ab wippen. Sie musterte die Fremde einen Moment, machte eine wegwerfende Bewegung mit den Händen und setzte eine beleidigte Miene auf. Als Heide hörte, wie sie leise nuschelnd erneut anhob zu sprechen, durchquerte sie den Verkaufsraum und stellte sich direkt neben den Rollator. Sie hatte von ihrer Oma Lydia – einer waschechten Veldhauserin – Plattdeutsch gelernt und verstand jedes Wort, das Tante Martha von sich gab. Der typische Sprechklang verriet ihr, dass die alte Dame in der Niedergrafschaft aufgewachsen sein musste. Sie sprach dasselbe Platt wie ihre Oma. Tante Martha erzählte von Simones Mann, davon, dat he futtlopen is, dat he siene Frau betrogen hev en annere Mäinschen . Sie war also der Ansicht, Simones Mann sei ein Betrüger. Vlicht hef he ok eene doad makt. Es konnte aber – laut Tante Martha – ebenso gut möglich sein, dass er jemanden umgebracht hatte. Diese zuletzt geäußerte Vermutung, Schöllen könne ein Mörder sein, brachte Heide ungewollt ins Grübeln und ihr das Gesicht ihres Liebsten vor Augen. Zeigte Dieters Instinkt ihr den richtigen Weg? Es wäre nicht das erste Mal, dass sein Anfangsverdacht sich letztendlich bestätigte, obwohl sie – rein statistisch gesehen – einen beachtlichen Vorsprung vorzuweisen hatte, wenn es darum ging, den ersten Volltreffer während einer Ermittlung zu landen.
»Tante Martha, ich bitte dich!«, schrie Renate, deren Geduld offensichtlich verbraucht war. Auf ihrem ebenmäßigen Teint zeigten sich bereits rötliche Flecken, die sich über Wangen und Hals bis ins Dekolleté zogen. Nervös fuhr sie mit beiden Händen über eine knappe, blütenweiße Servierschürze, die sie über einem schwarzen, knielangen Rock trug, und eilte hinter die Verkaufstheke. Die Kundin ließ sich nicht beirren, murmelte ohne Unterbrechung weiter von Lug und Betrug, vom Geldleihen, von Verbrechern und von Gerald Schöllen.
»Tante Martha. Du bist nicht allein im Laden. Sei bitte still.«
Heide registrierte, dass der Gesichtsausdruck der alten Dame sich plötzlich veränderte. Vom Eingeschnapptsein schlug er in ein störrisches Ich-habe-doch-recht um. »Wenn ich sage, dass Schöllen elendig umgekommen ist, dann ist er elendig umgekommen.«
Mit ihrer vorherigen Gemütsverfassung hatte Tante Martha offenbar auch die plattdeutsche Sprache abgelegt. Sie äußerte ihre Meinung jetzt deutlich
Weitere Kostenlose Bücher