Der Puppenfänger (German Edition)
mit einer wohltönenden Stimme, genau zu erzählen, was geschehen sei.
Das Emsland hatte wahrlich einiges an Überraschungen zu bieten, überlegte Ingrid verwundert, zwang sich aber augenblicklich zur vollen Konzentration und berichtete dem sympathischen, gutaussehenden Kommissar detailliert und sachlich, was in der letzten Stunde geschehen war. Sie registrierte, dass mittlerweile Männer in weißen Schutzanzügen den Parkplatz bevölkerten und Absperrungen anbrachten. Eigentlich lief das Geschehen genauso ab, wie sie es aus den sonntäglichen Krimis kannte. Trotzdem hielt sie ihren Blick fast ausschließlich auf Imerhofs Gesicht geheftet und beantwortete freundlich seine Fragen.
*
Heide scheuchte Beates uralten Kater von einer Teakholzliege und machte es sich selbst darauf bequem. Der Kater hieß Samstag, weil Beate ihn an diesem Wochentag aus einem Katzenheim geholt hatte. Früher hatte es in ihrem Umfeld eine Frau Dienstag gegeben, die am Dienstagmorgen die Flure des Studentenwohnheims geputzt hatte, einen Kioskbesitzer, den Beate Sonntag nannte, weil sie ihre Zeitung am Wochenende bei ihm kaufte, und jenen Freitag, den sie an einem Freitagabend kennengelernt hatte. Mit ihm hatte sie ein Verhältnis gehabt. Leider war Herr Freitag ihr nicht treu gewesen und hatte nicht gehalten, was die gleichnamige Figur aus dem Roman Robinson Crusoe versprach.
An Beates grauhaarigen Brillenträger Freitag hatte Heide sich erinnert, als der Apotheker Tommy Orthes sie lächelnd in seinem Verkaufsraum begrüßte. Obwohl Orthes seinen Körper unter einem weiten weißen Kittel versteckt gehabt hatte, war nicht zu übersehen gewesen, dass er sehr schlank, fast mager war. Genau wie Beates ehemaliger Liebhaber trug er seine braunen, bereits angegrauten Haare kurz und akkurat geschnitten. Auch das Gestell der imposanten, dunklen Hornbrille, die sein Gesicht sehr schmal erscheinen ließ, war fast identisch mit dem, das Heide an Herrn Freitag aufgefallen war. Modell Honecker, hatte sie damals gedacht. Vermutlich litt der arme Tommy Orthes unter einer Allergie. In Beates Interesse hoffte Heide, dass der Apotheker neben seiner Krankheit nicht auch noch eine heimliche Verlobte oder auswärtige Geliebte vorzuweisen hatte.
Der Brillenträger Freitag aus ihren Jugendzeiten musste Beates Männergeschmack auf eine für sie unerklärbare Weise geprägt haben. Heide hatte zwei seiner Nachfolger kennengelernt, und es erschien ihr ziemlich eindeutig: Beates Männerbekanntschaften verkörperten stets denselben Typus. Sie waren eher mager als schlank, dunkelhaarig, bevorzugten einen korrektem Kurzhaarschnitt, und auf ihrer Nase thronte eine Brille. Während sie sich Beates Liebhaber vor Augen führte, fiel ihr ein, dass sie irgendwann einmal zu ihr gesagt hatte: Wenn dir ein Mann gut gefällt, darfst du dich freuen, dass es im Bauch kribbelt und dir Flügel gewachsen sind. Flieg, sei ein Schmetterling, aber schalte wenigstens ein einziges Mal am Tag deinen Verstand ein. Geh spazieren oder leg dich in die Badewanne und denke gründlich nach. Falls du keinen klaren Gedanken fassen kannst, verreise. Doch verreise allein. Eine räumliche Trennung von dem Mann deiner Träume bewirkt oft Wunder. Glaube mir, nie sind sie so göttlich, wie du es dir einbildest. Keiner deiner Freunde war es bisher. Es waren normale Männer mit durchschnittlichem Aussehen und durchschnittlicher Intelligenz. Nicht einer von ihnen hat es verdient, dass du vor ihm auf die Knie fällst. Als sie diese ziemlich arrogant klingenden Ratschläge erteilt hatte, war sie bereits mit Alexander zusammen gewesen, aber sie hatte ihn noch nicht gut gekannt. Zumindest hatte sie noch nicht den Alexander gekannt, der sie wenig später betrogen hatte.
Momentan lag Beate dem Apotheker zu Füßen. Konnte allein dieser Zustand sie in das emotionale Chaos gestürzt haben, in dem sie versank, immer bemüht, den Kopf oben zu halten, um nicht darin zu ertrinken? Möglicherweise steckte hinter Beates gemischtem Durcheinander – dem inneren und dem äußeren – nicht allein der Apotheker. Vielleicht verbarg sich mehr dahinter. An einen ihrer Liebhaber, einen mittelmäßig begabten Musiker, erinnerte Heide sich, als hätte sie ihn gestern erst gesehen. Beate hatte ihn monatelang in ihrer winzigen Wohnung aufgenommen, ihn bewirtet, für ihn den Kühlschrank gefüllt und ihm obendrein Geld geliehen, das er nie zurückgezahlt hatte. Sie hatte seine Wäsche gewaschen, seine Hemden gebügelt, täglich für
Weitere Kostenlose Bücher