Der Puppenfänger (German Edition)
wanderten.
Nach dem Mittagessen hielten sie gewöhnlich ein kleines Nickerchen. Sobald sie ihren Nachmittagskaffee getrunken hatten, zu dem sie sich selbstverständlich ein Stückchen Kuchen leisteten, holte Knut die Fahrräder aus dem Abstellschuppen. Ingrid inspizierte unterdessen den Kühlschrank und schrieb den Einkaufszettel. Anschließend machten sich beide auf den Weg ins benachbarte Haren, um dort einzukaufen. Dafür wählten sie stets eine andere Route und nahmen bewusst Umwege in Kauf. An diesem frühen Donnerstagnachmittag radelte Ingrid vorneweg. Doch bereits nach kurzer Zeit stellte sie fest, dass sie vermutlich zu häufig nach der Kaffeekanne gegriffen hatte. Ihre Blase reagierte äußerst sensibel auf große Mengen Kaffee. Sie entschied, sich nicht länger zu quälen, sondern möglichst schnell für Erleichterung zu sorgen. An der B 408 gab es ein stilles Plätzchen, nahe am Harener Berg und dicht am Kanal. Dort würde sie hoffentlich im Unterholz ein passendes Örtchen finden.
Dem lauten, hektischen Summen unzähliger Fliegen in der Nachmittagssonne schenkte sie zuerst keine Aufmerksamkeit. Erst als ihr ein penetranter Geruch in die Nase stieg, schaute sie sich genauer um, konnte aber im hohen Gras hockend nichts Außergewöhnliches entdecken. Die Leiche sah sie, als sie Wasser gelassen hatte und im Stehen ihre Unterhose wieder hochzog. Der Mann lag auf dem Rücken, allerhöchstens einen Meter von ihr entfernt. Ingrids Blick fiel gleich auf den seitlich verdrehten Kopf. Wo eigentlich der Hinterkopf sein sollte, sah sie eine klumpige, mit Fliegen bedeckte, rotbraune Masse. Sie schloss die Augen, begann zu würgen und presste die Hände vor Mund und Nase. Erst, nachdem sie durch das Gebüsch gestolpert war und den Rastplatz fast erreicht hatte, begann sie, aus Leibeskräften zu schreien.
Knut reagierte blitzschnell und ohne sich von dem Wahrheitsgehalt ihrer Beobachtung überzeugt zu haben. Noch während er ihrer gestammelten Erklärung, im Gras liege eine Leiche, lauschte, griff er zu seinem Handy und informierte die Polizei. Anschließend machte er sich auf den Weg, um den grausigen Fund anzuschauen, kam aber bald wieder zurück und setzte sich auf den Gepäckträger seines Fahrrades. Ingrid beobachtete ihn, und ganz plötzlich wurde ihr bewusst, wie sehr und weswegen sie ihn liebte und warum sie ihn geheiratet hatte. Wenn es brenzlig wurde, konnte sie sich auf Knut verlassen. In ihren kühnsten Träumen hätte sie nicht angenommen, dass sie jemals über eine Leiche und damit in einen Mordfall stolpern würde. Fast –! Nur fast!, wies die wahrheitsliebende Ingrid sich zurecht. Sie war ja nicht direkt über den Körper gefallen, sondern nur beinahe. Sie hatte sich neben ihn gehockt. Hätte sie … Einen Schritt weiter nach rechts und einen halben nach vorne …! O Gott! Der Tote im Gras war wahrscheinlich ermordet worden. Bestimmt ermordet! Die Wunde, das riesige blutige, mit Fliegen übersäte … Und das im friedlich ländlichen Emsland.
Knut und sie sahen gerne den Sonntagskrimi und verpassten keine Aktenzeichen- XY -ungelöst -Sendung. Bisher hatte Ingrid lediglich geahnt, dass es auch in ihrem Leben gefährlich werden konnte. Jetzt wusste sie es. Wie wohltuend es war, dass sie die Unwägbarkeiten, die ein Menschenleben bereithielt, nicht allein bewältigen musste, sondern jemanden an ihrer Seite hatte, der sie beruhigte und ihr mit liebevollen Worten die Angst nahm. Geradeso wie in diesen langen Minuten des Wartens, in denen Knut ihre Hand hielt und beruhigend auf sie einredete, bis sie endlich ein Martinshorn hörten. Wenig später fuhr ein Fahrzeug auf den Rastplatz.
So schauten sie also aus, die echten Kripobeamten in Zivil, die aus dem wahren Leben, dachte Ingrid. Der jüngere Polizist stellte sich zuerst vor. Er hieß Haila, war Kriminalhauptkommissar, zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt, sehr schlank, mit einem schmalen Gesicht, rotblondem Haar und hellen blauen Augen. Er trug Jeans und einen Wildlederblouson, fragte knapp, wo sie die Leiche entdeckt hatten, und marschierte, nachdem er eine Antwort auf seine Frage erhalten hatte, direkt in die Richtung des Leichenfundortes.
Sein Kollege nannte sich zwar Imerhof, sah aber dem Hollywoodschauspieler Cary Grant so ähnlich, dass Ingrid den Atem anhielt und ihre Wangen sich röteten, als sie ihm die Hand reichte. Er stand – in dunkelblauem Sakko und blau-weiß gepunkteter Krawatte – direkt vor ihr, lächelte charmant und bat sie
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