Der Puppenfänger (German Edition)
an Friedrichs und fragte: »Okay, gehen wir also davon aus, dass wir es nicht mit einem Freitod zu tun haben?«
»Eine Waffe konnten wir bisher nicht sicherstellen. Außerdem schießt man sich nicht in den eigenen Kopf, ohne sich dabei die Finger schmutzig zu machen«, antwortete Friedrichs fast barsch. Er grinste ironisch. »Hast du Blutspritzer an seinen Händen gesehen, Michel? Ich habe keine entdecken können. Obendrein fehlt ein Schuh. Hinten im Sand haben wir Reifenspuren sichergestellt, ziemlich breite Schluffen, könnten von einem Geländewagen stammen. Bin gespannt, was wir auf diesem unglückseligen Fleckchen Erde noch alles finden werden.«
»Nach der Obduktion wissen wir mehr«, murmelte Wilhelm mürrisch. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, einige Tage freizunehmen, ganz gleich wie Lenis Befund ausfallen würde. Doch jetzt durchkreuzte dieses Tötungsdelikt seine Pläne. Damit war ein Kurzurlaub in etwa so absehbar wie das nächste Weihnachtsfest. Sicherlich würde Fuchs seine Fortbildung abbrechen und bereits heute aus Hannoversch Münden zurückkommen. Für den Abend durfte er sich auf eine Dienstbesprechung einstellen.
»Na bitte«, rief Friedrichs. »Wir haben seine Brieftasche aufgespürt, lag einige Meter weiter im Gebüsch. Er heißt Laxhoff! Gunnar Laxhoff, geboren 1961.«
*
Schöllen dachte an seine Ehefrau, als er wach wurde. Sie hieß Simone, nicht Christina. Das war Fakt! Seitdem der Schattenmann ihm zu trinken gegeben hatte, war sein Kopf wieder klarer und spuckte Wissen aus. Simone war es auch gewesen, die die Vornamen ihrer gemeinsamen Töchter ausgesucht hatte. Er fühlte sich für die Erziehung der beiden Gören verantwortlich und duldete in seiner Gegenwart keine Frechheiten und Widerworte. Unglücklicherweise waren die Mädchen dickköpfig – Wildkatzen, die gezähmt werden mussten. Deswegen erschien es ihm geboten, seinen Damen täglich zu zeigen, wer der Herr im Haus war. Wie viel Macht er in dieser Hütte besaß, war ihm bewusst geworden, als einer seiner Entführer ihn völlig unerwartet in die Rippen getreten und sich anschließend auf seine Hand gestellt hatte. Dabei hatte der Irre von Gerechtigkeit und Sühne geredet.
Merkwürdigerweise zeigten auch die Mäuse seit heute keine Furcht mehr vor ihm. Vorher war es ihm immerhin gelungen, die kleinen Nager für wenige Minuten zu vertreiben, indem er laut schrie oder seine gefesselten Füße anhob und sie schwungvoll auf den Holzboden fallen ließ. Doch mittlerweile hatten seine Mitbewohner sich an das dumpfe Poltern, das seine Schuhe auf dem Boden verursachten, und an sein Brüllen gewöhnt. Auch jetzt provozierten sie ihn, verschwanden hinter den Fußleisten, tauchten wenig später wieder auf und ignorierten ihn sogar, während sie dicht an seinem Körper vorbei oder über ihn hinweg liefen.
Ein kribbelnder, stechender Schmerz zog durch seine Beine und seine Arme. Vielleicht würde er nicht mehr laufen können, wenn man ihn endlich losband. Vielleicht würde er niemals wieder laufen können, dachte Schöllen und begann jämmerlich zu weinen. Vielleicht starben zuerst seine Gliedmaßen ab, dann der Rumpf und ganz zuletzt sein Hirn.
Ab Papa! Du bit böte, un Ichad it lieb! Ab Papa! Du bit böte, un Ichad it lieb!
War Paula, seine Jüngste, zu ihm in die Hütte gekommen? Nein – das konnte nicht sein! Paula war nicht real! Zwar gab es sie, aber sie hielt sich nicht mit ihm in der Hütte auf. Die Mäuse waren da. Sie waren anwesend. Er hatte zu wenig Flüssigkeit zu sich genommen und deswegen sah er Gespenster. Einen winzigen Moment lang hatte er sich tatsächlich eingebildet, seine Tochter säße in der rechten Ecke des Raumes – direkt hinter ihm – und brabbelte in ihrer Kleinkindersprache und im passenden Rhythmus den Text zu Ravels Bolero, der aus dem Laptop knallte und ihn langsam, aber sicher in den Wahnsinn trieb.
TAM Ta Ta Ta, Tam Ta Ta Ta Tam Ta TAM Ta Ta Ta, Tam Ta Ta Ta, Ta Ta Ta Ta Ta Ta …
Ab Papa! Du bit böte, un Ichad it lieb!
TAM Ta Ta Ta, Tam Ta Ta Ta Tam Ta TAM Ta Ta …
Er nahm sich vor, die imaginäre Paula zu ignorieren und sich auf die Mäuse zu konzentrieren. Dabei fiel ihm ein, dass seine Tochter Inga vor einigen Wochen beim Mittagessen von einer weißen Maus erzählt hatte, die ein befreundetes Kind mit in den Kindergarten gebracht hatte. Seiner Frau war es nicht gelungen, Ingas Begeisterung in die richtigen Bahnen zu lenken, und als sie sich strikt geweigert hatte, ein Tier dieser Art im
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