Der Puppenfänger (German Edition)
Kinderzimmer zu dulden, war das Mädchen frech geworden.
Der Haushalt und das lächerliche Drumherum lagen ausschließlich in Simones Wirkungskreis und waren Weibersache. Schöllen interessierte sich nicht im Geringsten für Tiere. Es sei denn, sie liefen ihm vor die Beine. Daher hatte er es gehalten wie immer. Er hatte Inga ausgeschimpft, bis sie weinte, und er hätte der widerspenstigen Göre liebend gerne einen ordentlichen Klaps auf den Po gegeben, wäre Simone nicht dazwischengegangen.
Ein unerträglicher Durst quälte ihn, und seine Hose, die fast getrocknet war, stank nach Urin. Ihm war schlecht. Wenn sein Blick auf die leere Wasserflasche fiel, die bis in die schräg gegenüberliegende Zimmerecke gerollt war, stiegen ihm Tränen in die Augen. Sein Rachen war eine klebrige Höhle, seine Zunge dick und schwer. Wie viel Zeit war vergangen, seit er das letzte Mal getrunken hatte? Er dachte an seine Rolex, die er gewöhnlich vor dem Schlafengehen im Safe einschloss und morgens, sobald er aus dem Bad kam, anlegte. Auch an dem Morgen seiner Entführung musste er sie sich umgebunden haben. Deshalb war er sich ziemlich sicher, dass man ihm die Uhr gestohlen hatte. Wie lange hockte er bereits in dem knapp möblierten, dämmerigen Raum, starrte auf den Laptop, auf die leere Wasserflasche oder auf seine braungrauen Hausgenossen? Hundert Mal und öfter hatte er sich gefragt, wovon diese Allesfresser sich in seiner kargen Umgebung ernährten und wo sie sich ihr Wasser holten. Oder konnten sie leben, ohne zu trinken?
Ihm war kalt. Bald würde er erfrieren! Er hatte einen Anzug angehabt, als er am Montag aus dem Haus ging. Darauf würde er, ohne zu zögern, seine Firma verwetten. »Armani – schwarz – Gerald«, nuschelte er, als könnte der Klang seiner eigenen Stimme ihn in seiner Ansicht bestärken. »Du bist dir sicher, Gerald. Den schwarzen Armani, den du dir im letzten Jahr zugelegt hast. Armani – schwarz.« Er trug, wenn er in die Studios fuhr, dunkle Businessanzüge. Zwar nicht maßgeschneiderte, diesen Luxus brachten ihm seine Läden zurzeit nicht ein. Aber er leistete sich das Edelste, das man von der Stange kaufen konnte.
Okay, der erste Schritt war gemacht. Sein Hirn funktionierte. Schlagartig war ihm bewusst, was am Morgen seiner Entführung geschehen war. Er erinnerte sich an die Kleidung, die er getragen hatte, und an seine Rolex. Sein Aktenkoffer hatte in der Diele gestanden. Er hatte ihn genommen und war wie gewohnt durch den Keller in die Garage gegangen. Und dann? Simone war ihm nachgelaufen. Gut, Gerald! Du hast deine Sinne wieder beisammen! Weiter! Er hatte bereits im Wagen gesessen, als er sie bemerkt hatte. Sie war –? Was? Er wusste es nicht! Prompt fiel ihm ein, dass er am Tag seiner Entführung ein ordentliches Donnerwetter veranstaltet hatte, weil sein blau gestreiftes Hemd nicht aufzufinden gewesen war und Simone die hellblaue Krawatte, die er sich umbinden wollte, nicht aus der Reinigung geholt hatte. Sie hatte, wie es ihre Art war, die Ohren auf Durchzug gestellt, als er ihr begreiflich machen wollte, wie nachlässig und undiszipliniert sie den Haushalt führte. Paula war daraufhin aus ihrem Kinderstuhl gekrabbelt, hatte sich an ihre Mutter geklammert und geflennt: ›Ab Papa! Du bit böte, un Ichad it lieb.‹
Ichad war der Name ihrer neuen Freundin aus der Krabbelgruppe, nahm Gerald jedenfalls an, denn seine Tochter brabbelte seit einigen Wochen ständig von Ichad. Er hatte Simone zum hundertsten Mal gesagt, dass er nicht länger mit anhören könne, wie das Kind beim Sprechen die eigene Zunge runterschlucke. Paula war alt genug und offensichtlich nicht behindert. Simone müsse ihr endlich das Sprechen beibringen, anstatt am laufenden Band mit den Blagen im Wasser rumzuplanschen oder Rutsche zu rutschen.
Im selben Moment hatte Inga – höchstwahrscheinlich absichtlich – ihre Cornflakes über den Frühstückstisch gekippt. Ehe er reagieren und sich in Sicherheit bringen konnte, war die matschige, milchige Kinderpampe über seinen Schoß geflossen. Nachdem er seinen Damen lautstark demonstriert hatte, wer der Chef im Hause war, hatte er ein zweites Mal an diesem gottverdammten Morgen geduscht und sich erneut umgezogen. Jetzt war er entsetzlich hungrig. Bedauerlicherweise war er nach dem häuslichen Desaster weggefahren, ohne zu essen. Oder hatte er gefrühstückt und sich die Heulerei angehört, während er seine Rühreier verspeiste? Nein! Wegen der hysterischen Weibsleute hatte
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