Der Puppenfänger (German Edition)
Wenige Minuten später stand sie in der Küche. Schnell stellte sie fest, dass die benutzten Teller, die Gläser und das Besteck vom Vorabend noch immer geduldig auf ihren Abtransport warteten und auch die reichhaltigen Fleisch-, Gemüse- und Kartoffelreste des Abendessens keinen Kühlschrank von innen kennengelernt hatten.
Sie beschloss, den geliebten Morgenkaffee irgendwann später, in einer angenehmeren Umgebung zu trinken, und wollte das Haus gerade samt Reisetasche verlassen, als eine gutgelaunte, frisch geduschte Beate die Diele betrat.
»Hallo, hast du gut geschlafen?«
»Hmmh«, brummelte Heide.
»Ich hoffe nicht, dass dir heute die Kopfschmerzen zu schaffen machen, die mich gestern Abend ganz plötzlich heimgesucht haben.«
»Tatsächlich? Du hattest Kopfschmerzen? Wie schrecklich!«, erwiderte Heide und fügte ironisch hinzu: »Deswegen musstest du dich gleich flach legen?«
»Und keine einzige Tablette im Haus!«, führte Beate weiter aus, ohne die Doppeldeutigkeit von Heides Worten zu beachten. »Entsetzlich! Ich wäre vor Schmerzen am liebsten die Wand raufgelaufen. Und das Schlimmste, sobald sich bei mir diese besondere Art Kopfschmerz meldet, folgt nach einer halben Stunde ein Migräneanfall, der mich tagelang ins Bett zwingt. Deswegen bin ich schnell mit dem Fahrrad ins Dorf geradelt und habe mir von Thomas eine bestimmte Sorte Schmerztabletten geben lassen. Nichts ist schlimmer als ein nächtlicher Migräneanfall, wenn man keine Medikamente im Haus hat.«
Heide schluckte die Bemerkung, das Landleben provoziere scheinbar Lügen und Schmerzen, hinunter, verfrachtete ihr bescheidenes Gepäck geschwind ins Auto und trennte sich so schnell wie eben möglich von ihrem ungastlichen Domizil. Erst als sie auf die Landstraße fuhr, fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, Beate nach der unbekannten Schönheit zu fragen, mit der Herr Buttenstett seine Tochter so häufig abgelichtet hatte.
*
Simone Schöllen öffnete die Tür genau in dem Augenblick, als die Polizisten die oberste Stufe des Hauseingangs betraten. »Ja bitte?«, fragte sie, so gelassen, wie es ihr möglich war.
»Duten Tach«, brabbelte Paula.
Der Blonde grinste. Er sah Paula aus blauen, temperamentvoll blitzenden Augen an und zauberte eine Vielzahl Lachfältchen in sein gebräuntes Gesicht. »Guten Tag, mein hübsches Fräulein. Verrätst du mir, wer du bist? Ich heiße Dieter.«
»Paua«, gab die Kleine bereitwillig Auskunft und fügte hinzu: »Inta nit da und Papa nit da.«
»Und wo ist Inta?«, fragte Dieter.
»Tindedaten.«
»Okay, das habe ich kapiert. Inta ist sicherlich deine Schwester, und sie ist im Kindergarten.«
»Tabbetuppe.«
»Du gehst schon in die Krabbelgruppe?«
»Ja!«
»Sie besucht die Gruppe nur am Freitag, aber Paula war heute früh etwas fiebrig«, erklärte Simone mit geröteten Wangen.
»Nei nit!«, schrie Paula.
Amüsiert bemerkte Dieter Simone Schöllens Verlegenheit und beschloss, die durchaus informative Unterhaltung mit dem Kind weiterzuführen. Dass Paulas Geplauder der Mutter peinlich war, konnte ein Blinder mit Krückstock sehen. Dabei war Tabbetuppe-Schwänzerei nicht strafbar, schmunzelte er im Stillen.
Michel Haila entschied, das alberne Kindergeschwätz abzubrechen. Er wandte sich an Simone, musterte sie und sagte forsch: »Mein Name ist Haila, und das ist mein Kollege Herr Fuchs.«
Dieter schluckte seine Verärgerung über Hailas gedankenlose Unterbrechung hinunter und war bemüht, die Kommunikation mit der Kleinen nonverbal über intensiven Blickkontakt aufrechtzuerhalten. Er strahlte sie an, Paula fing die gesendeten Schwingungen auf, war entzückt und teilte ihm ihre Empfindungen auf der Stelle mit.
»Du bit lieb! Ichad au lieb!«
Simone schoss erneut die Röte in die Wangen. Sie nahm dem Polizisten den Ausweis ab und betrachtete ihn, konnte sich aber, nachdem Haila das Dokument wieder eingesteckt hatte, in ihrer Aufregung nicht daran erinnern, was genau oder ob sie überhaupt etwas gesehen hatte. Sie musste sich jetzt nach Gerald erkundigen.
Sie hustete, krächzte: »Haben Sie …«, hustete wieder und war endlich in der Lage, halbwegs mit ihrer Alltagsstimme zu sprechen. »Haben Sie etwas über meinen Mann erfahren? Ich wundere mich sehr, dass Sie sich erst jetzt melden und meine Sorgen nicht bereits am Montag ernst genommen haben.«
»Eine Vermissten-Fahndung wird in der Regel eingeleitet, sobald angenommen werden kann, dass der Vermisste das Opfer einer Straftat wurde oder
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