Der Puppenfänger (German Edition)
streichelte ihr übers Haar.
Simone suchte ein Taschentuch in ihrer Hosentasche und tupfte ihre Tränen ab. »Entschuldigen Sie bitte. Ich bin mit meinen Nerven ziemlich am Ende.«
»Das ist doch verständlich«, versicherte der Beamte betont einfühlsam. Er strich sich seine Haare aus der Stirn, die er nicht akkurat geschnitten, sondern immer einige Zentimeter zu lang trug, und lächelte Simone freundlich an.
»Haben Sie noch Fragen? Falls nicht, würde ich jetzt gerne einkaufen fahren. Ich muss das Mittagessen vorbereiten und Inga um 12 Uhr aus dem Kindergarten abholen.«
Dieter warf einen Blick auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass Frau Schöllen bis dahin mehr als genug Zeit blieb. »Erzählen Sie uns doch bitte in aller Ausführlichkeit, was am Montagmorgen geschah. Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Haben Sie vielleicht fremde Fahrzeuge vor dem Haus gesehen, merkwürdige Telefonanrufe erhalten? Hatte Ihr Mann mit irgendjemandem Streit oder geschäftliche Auseinandersetzungen, Frau Schöllen? Gab es in den Studios Probleme, von denen wir wissen sollten?«
»Nein!«, wehrte sie energisch ab. Sie atmete einige Male tief ein und aus und zwang sich zum hundertsten Male an diesem Vormittag, die Ruhe zu bewahren. ›Du weißt, was du ihnen erzählen musst‹, hatte Richard gesagt. ›Lass dich nicht aus der Reserve locken. Falls sie es wünschen, wiederholst du immer und immer wieder dieselbe Version deiner Geschichte. Benutze andere Wörter, aber verändere nichts Wesentliches.‹
»Am Montagmorgen lief alles so ab wie immer, wir …«, begann sie. Noch ehe sie berichten konnte, dass Gerald zu spät aufgestanden war, klingelte es an der Haustür. Simone war erleichtert und bemühte sich nicht, dieses Gefühl zu verbergen. Sie entschuldigte sich hocherfreut und ließ die Kommissare allein.
*
Ein Tag, der so grässlich begonnen hatte wie der heutige, konnte nichts Gutes bringen. Heide beschloss, in der Bäckerei Lübhein Brot zu kaufen, ehe sie nach Osnabrück zurückfuhr. Kaum hatte sie den Laden betreten, schob Renate Lübhein ihr einen Teller entgegen, auf dem – klein geschnitten und dick mit Butter bestrichen – helles Korinthenbrot zu einem Türmchen aufgeschichtet war. Heide dankte, griff beherzt zu und war begeistert. Der Weggen schmeckte köstlich. Sie würde Dieter damit morgen zum Frühstück beglücken.
»Geben Sie mir bitte von dem Weggen. Er schmeckt wunderbar. Ich werde ihn mit nach Hause nehmen.«
»Sie fahren nach Hause? Das war ja ein kurzer Urlaub. Meine Tante erzählte mir, dass sie gestern auf dem Weg zu einer Freundin waren, als sie zu uns ins Geschäft kamen.«
Na endlich, dachte Heide amüsiert. Diese Frage hatte sie bereits am Vortag erwartet, als sie die Bäckerei das erste Mal betrat. »Ich habe meine Bekannte Beate Buttenstett besucht«, stimmte sie bereitwillig zu.
»Ach die Beate, die kenne ich gut. Sicher haben Sie mit ihr studiert. Sind Sie auch Lehrerin?«
»Ich arbeite in einem Büro«, umschrieb Heide großzügig ihre Tätigkeit.
»Tante Martha ist etwas … etwas komisch … ein bisschen …« Renate Lübhein wurde rot. Sie zögerte und musterte verlegen einen Bogen Einschlagpapier, ehe sie das Brot darauflegte.
»Sonderbar?«, half Heide ihr.
»Richtig, genauso ist sie. Sonderbar! Marthas Katzenträume haben mir früher eine entsetzliche Angst eingejagt. Solange man ein Kind ist und nicht selbständig denken kann, lässt man sich von dieser Spökenkiekerei beeindrucken. Jetzt raubt mir ihr Gerede nicht mehr den Schlaf.« Sie legte den ordentlich eingepackten Weggen auf die Glasablage und fügte erklärend hinzu: »Martha hat zu viel Phantasie. Mit den Jahren ist sie immer schrulliger geworden. Vergessen Sie, was sie Ihnen erzählt hat. Ich bekomme von Ihnen zweiachtzig.«
»Diese merkwürdige Geschichte, dass ein Mann, der Schöllen heißt, verschwunden sei, die hat Ihre Tante aber nicht frei erfunden«, stellte Heide fest, während sie ihr Portemonnaie aus der Handtasche kramte und das Geld abgezählt in eine Plastikschale legte, auf der die hiesige Raiffeisenbank mit ihrem Logo warb.
»Der Gerald Schöllen ist häufig geschäftlich verreist«, erklärte Renate Lübhein. »Martha bringt da wohl einiges durcheinander. Sie feiert bald ihren 85. Geburtstag, da sollte man nicht alles für bare Münze nehmen, was sie den Tag über so von sich gibt.«
Heide lachte. »Unser Familienoberhaupt heißt Lydia. Sie ist meine Großmutter und wird in diesem
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