Der Puppenfänger (German Edition)
niemanden liebte er mehr als ihn. Wenn Schöllen es sich genau überlegte, war sein Bruder der einzige Mensch auf dieser Erde, für den er überhaupt jemals etwas empfunden hatte.
Ab Papa! Du bit böte, un Ichad it lieb! Ab Papa! Du bit böte, un Ichad it lieb!
»Dich auch, Kleine«, krächzte Schöllen. »Dich habe ich auch gerne.«
F REITAG, DEN 15. A PRIL 2011
Die Polizeibeamten klingelten um kurz nach neun Uhr an der Pforte. Sie waren mindestens zwei Tage später dran, als Simone erwartet hatte.
Ehe sie den Türöffner betätigte und die ungebetenen Gäste auf das Grundstück ließ, betrachtete sie die beiden Männer lange auf dem Bildschirm der Überwachungskamera und versuchte, in ihren Gesichtern zu lesen. Doch ganz gleich, wie viel Mühe sie sich gab. In den Mienen der Polizisten sah sie außer einer freundlichen, aber unverbindlichen Gelassenheit nicht die geringste Gefühlsregung. Sie sprachen nicht miteinander, während sie auf Einlass warteten. Beide trugen Zivil. Der Rotblonde ein braun-grünes Tweedjackett zu einer braunen Hose und einem beigefarbenen Oberhemd. Der große Blonde eine schwarze, zerknautschte Lederjacke über einem gleichfarbigen T-Shirt und einer verwaschenen Jeans.
Der Blonde überragte seinen Kollegen um mehr als einen Kopf. Er strich sich mit einer knappen Bewegung die Haare aus dem Gesicht, steckte dann seine Hände in die Hosentaschen und schaute mit bewegungslosem Gesicht vor sich auf den Plattenweg. Der andere betrachtete das Display seines Handys, und einen kurzen Augenblick meinte Simone, ein Lächeln um seine Mundwinkel spielen zu sehen. Sicherlich las er eine Nachricht, über die er sich freute.
Vermutlich hatten die Polizisten die Videokamera längst entdeckt und ahnten, dass sie beobachtet wurden, überlegte Simone. Ihr Puls beschleunigte sich, klopfte so laut, dass sie sich fast gewiss war, auch ihre Besucher würden den dröhnenden Rhythmus ihres Herzens durch die Sprechanlage hören.
›Sie werden dich freundlich und zuvorkommend behandeln, aber lass dich nicht täuschen‹, hatte Richard gewarnt. ›Vergiss keinen Moment, wer vor dir steht, und denke stets daran, dass sie in Gesprächsführung geschult sind. Aber sie wissen nicht, dass Gerald dich geschlagen und missbraucht hat, und sie sollten es zu diesem Zeitpunkt auf keinen Fall erfahren. Du bist Frau Schöllen, du bist glücklich verheiratet. Gerade weil du nichts zu verbergen hast, wolltest du bereits am Montag auf dem Revier eine Vermisstenanzeige aufgeben. Du darfst die Polizisten auf gar keinen Fall unterschätzen. Allerdings ist es völlig normal, dass du in der Situation, in der du steckst, nervös bist. Du vermisst deinen Mann, du sorgst dich um ihn, er ist der Vater deiner Kinder, und du hast seit Montagmorgen kein Lebenszeichen von ihm erhalten. Du musst ruhig und gefasst bleiben. Ruhig, aber nicht zu ruhig. Lass dir ihren Ausweis zeigen. Reagiere besonnen und denke nach, bevor du auf ihre Fragen antwortest. Ein gesprochenes Wort kannst du nicht zurücknehmen. Simone, es ist selbstverständlich, dass du sofort von den Polizeibeamten wissen willst, ob man Gerald gefunden hat und wo. Ebenso normal ist es, dass du dich bei ihnen erkundigst, warum sie sich erst so spät bei dir melden und weswegen sie deine Vermisstenanzeige nicht aufgenommen haben.
Und bringe Paula vorsichtshalber am Freitag nicht in die Krabbelgruppe. Du fühlst dich besser, wenn sie bei dir ist. Falls die Fragen der Polizisten dich nervös machen, du eine kleine Pause brauchst, um über eine Antwort nachzudenken, gießt du ihnen Kaffee nach, bewirtest sie oder du beschäftigst dich mit dem Kind. Du kannst Paula ein Spielzeug holen, einen Schnuller oder das Fläschchen. Sobald Paula die Initiative übernimmt, lass sie. Sie wird die Beamten von dir ablenken. Was Besseres, als dass sie ihnen auf den Schoß krabbelt, kann dir nicht passieren.‹
Simone atmete tief durch, betete in Gedanken noch einmal die Verhaltensregeln durch, die sie mit Richard besprochen hatte, und eilte in die Küche. Sie hob Paula aus dem Kinderstuhl und ging, mit dem Mädchen auf dem Arm, zurück in die Diele.
*
Heide hatte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen. Zwei schlaflose Nächte waren mehr, als ein Mädchen in mittleren Jahren – wie sie ja leider bereits eines war – verkraften konnte. Als sie Beates altmodisches, ungepflegtes Badezimmer betrat, entschied sie spontan, dass eine Katzenwäsche reichen musste, und verzichtete auf ihre Morgendusche.
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