Der Puppenfänger (German Edition)
Besseren gewendet. Jetzt musste er auch für Paula und für Gunnar um Wasser bitten und für drei Leben bezahlen. Dabei ahnte er im Innersten, dass die Entführer kein Geld forderten. Sie wollten etwas von ihm, das er ihnen nicht geben konnte, weil er nicht begriff, was es war.
Er starrte in die hintere Ecke des Raumes, wo Gunnar sich vor wenigen Sekunden niedergelassen hatte. Obschon er wusste, dass er eine Backpfeife riskierte, begann er laut schluchzend zu weinen. Gunnar verabscheute kleine plärrende Jungen. Aber er rührte sich nicht, ganz gleich, wie laut Schöllen heulte. Er stierte ihn nur aus seinem fratzenähnlichen Gesicht an und sagte kein Wort. Lediglich Gunnars rechter Fuß begann, sich im Takt der laut dröhnenden Musik zu bewegen. TAM Ta Ta Ta, Tam Ta Ta Ta Tam Ta TAM Ta Ta Ta … Der kleine Gerald war ein ewig plärrender und rotzender Balg gewesen. Zu klein, zu mager, immer schmutzig und hungrig. Sogar auf der Beerdigung seiner Mutter hatte er nicht geheult, weil Gunnar es ihm verboten hatte. Schöllen legte sich auf den Boden und deckte das Gesicht mit einem Arm ab. Er heulte, bis er keine Tränen mehr hatte und in einen unruhigen Schlaf fiel.
Als er wach wurde, war Gunnar verschwunden und auch die kleine Paula konnte er nicht mehr sehen. Er griff nach der Wasserflasche, schraubte mit den gebundenen Händen den Verschluss ab, schluckte den lauwarmen Rest mit einem Mal runter und ließ die leere Flasche unter den Tisch rollen. Flüssigkeitsmangel! Flüssigkeitsmangel, Schöllen! Du siehst Gespenster, kehrst in deine Vergangenheit zurück, mixt dir im Hirn einen brisanten Cocktail, dessen Zutaten du besser schleunigst vergisst. Das Gebräu ist hochexplosiv und bringt dich und Gunnar möglicherweise für eine lange Zeit hinter Gitter!
TAM Ta Ta Ta, Tam Ta Ta Ta Tam Ta TAM Ta Ta Ta …
Die Scheißmusik verkörperte seine und Gunnars Vergangenheit und die ihrer nach Schnaps stinkenden Mutter, die ihre Bettgenossen häufiger gewechselt hatte als ihre Unterhosen. Dominant waren sie gewesen, die brutalen Schläger, die die Schlampe sich in die Wohnung geholt hatte. Von denen sie ihre Söhne und sich selber verprügeln ließ, um anschließend mit ihnen das Bett zu teilen. Scheiß drauf, ihr war egal gewesen, was Gunnar und der kleine Gerald anstellten, und auch er wollte nicht länger darüber nachdenken. Das Einzige, was er wirklich wollte, war Wasser. Sie sollten ihm endlich genügend zu trinken geben.
»Ein Königreich für einen Schluck Wasser«, krächzte er und lallte: »Ich bin der König! Wo ist das Wasser?«
TAM Ta Ta Ta, Tam Ta Ta Ta Tam Ta TAM Ta Ta Ta …
Von Ort zu Ort waren die Brüder ihrer Mutter, der Trinkerin, gefolgt, immer auf der Suche nach dem Glück, nach einem besseren Dasein, einem winzigen Lottogewinn oder wenigstens nach einer warmen Mahlzeit und einer Schachtel Zigaretten. Irgendwann hatten sie, die vom Jugendamt, die immer alles besser wussten, ihn, den winzigen, verwahrlosten Einzelgänger, in ein Heim gesteckt. Gunnar war für mehrere Jahre in den Jugendknast gewandert.
Aus. Vorbei. Ab dem Zeitpunkt waren Schule schwänzen, bummeln und faulenzen ein Tabu gewesen. Und verdammt noch einmal! Der durchgeplante Tagesablauf im Heim, die regelmäßigen Mahlzeiten und die Aufsicht der Erzieher hatten ihm gutgetan. Er hatte für die Schule gelernt und zu seiner Überraschung festgestellt, dass er intelligent war und es ihm nach anfänglichen Schwierigkeiten leichtfiel, gute Noten zu schreiben. Sein Leben war reibungslos verlaufen. Tag für Tag, Monat für Monat, bis zu dem Moment, da Gunnar seine Strafe abgesessen hatte und man ihn aus dem Gefängnis entlassen hatte. Sie hatten gemeinsam gesoffen und anschließend …
Ab Papa! Du bit böte, un Ichad it lieb! Ichad! Ichad! Ichad, schrie Paula.
Wie konnte diese Göre von seinen Sünden wissen? Verdammt. Verdammt!
Vielleicht brachte man ihm bald frische Unterwäsche und Seife? Vielleicht einen Rasierapparat? Ganz gewiss würde man bald jemanden schicken, mit dem er verhandeln konnte.
TAM Ta Ta Ta, Tam Ta Ta Ta Tam Ta TAM Ta Ta Ta …
Vielleicht würde dieser Jemand auch diesen beschissenen Laptop mitnehmen oder ausschalten, damit das nervende Gedudel ebenso wie Paulas Stimme aus seinem Kopf verschwand.
Gunnar hatte gewusst, wie man sein Leben anpackt. Ganz gleich, wo er aufgetaucht war. Sein Wort war Gesetz! Gunnar war das einzig Beständige in dem Scheißleben gewesen, das sie geführt hatten. Gunnar war Geralds Familie,
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