Der Puppenfänger (German Edition)
amüsiert an und warf ihr einen Handkuss zu. »Na bitte, meine Schöne, ich hab’s ja gesagt. Vor meinem Charme ist keine sicher. Damit habe ich bis jetzt jede um den Finger gewickelt.«
»Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, du Großmaul«, zog sie ihn auf. »Ich werde dir schon noch zeigen, wer vor dir sicher ist.«
Die Zeitungsartikel, die Tante Martha wenig später aus einer altertümlichen Holzkiste hervorkramte und nacheinander auf der Tischplatte ausbreitete, stammten allesamt aus der Zeit zwischen dem 13. und 20. April 2009 und waren in der Regionalpresse erschienen. In ihnen wurde von einem tragischen Verkehrsunfall berichtet, bei dem eine Emsländerin mit ihren sechsjährigen Zwillingstöchtern ums Leben gekommen war.
»Das war eine Katastrophe für Richard und für Marianne«, murmelte Tante Martha, während sie mit zittrigen Fingern umständlich in der Holzkiste kramte, bis sie endlich die Todesanzeige gefunden hatte und sie Heide reichte. »Das hat die Marianne bis heute nicht verkraftet. An einem Tag die Schwiegertochter und die beiden Enkeltöchter zu verlieren. Das ist hart. Da kann der Mensch an Gott zweifeln. So fröhliche, hübsche Kinder waren das, die Bine und die Suse. Wenn ich sie gesehen hab, dann hab ich immer an die Alexandra und an die …« Tante Martha brach ab. Sie zog ein mit hellblauer Spitze umhäkeltes Taschentuch aus ihrer Kitteltasche und betupfte mehrmals ihre geschlossenen Lider.
Heide betrachtete das bedruckte Büttenpapier mit dem schwarzen Trauerrand einen Moment lang, ehe sie die doppelseitige Karte aufklappte. In der Anzeige wurde mitgeteilt, Richard Wanner trauere um seine Ehefrau Christina und um seine Töchter Sabine und Susanne. »Und Richard Wanner, wie hat er diesen entsetzlichen Verlust verarbeitet?«, fragte sie und gab die Trauerkarte an Dieter weiter.
»Wie wohl?«, erwiderte die alte Dame knapp. »Gelitten hat er! Er hatte ja auch schon genug mitgemacht.«
»Bitte?«, fragte Dieter. Er fuhr sich mit einer Hand durch sein volles blondes Haar und betrachtete Tante Martha aufmerksam.
»Nun so – mit allem, was geschehen ist. Ich mein man so«, wich sie aus, während sie nach einer Fliege schlug, die sich auf dem Ärmel ihrer Bluse niedergelassen hatte.
»Ich nehme an, Alexandra und Christina waren Zwillingsschwestern«, stellte Heide fest.
Tante Martha nickte. Sie wich Heides Blick aus, sah stattdessen aus dem Fenster und erwiderte fast kühl: »Das stimmt. Sie waren Schwestern. Das mit den Zwillingen lag bei den Rosenbrings in der Familie. Die hatten schon immer Zwillinge, aber das ist ja jetzt vorbei. Jetzt sind ja alle tot. Alexandra und auch Christina und ihre Kinder.«
Dieter tippte mit seinem rechten Fuß gegen Heides linkes Bein. Er schaute sie warnend an und zog dabei die Augenbrauen hoch. Obwohl sie sein Zeichen richtig deutete, das da hieß: Warum so ungeduldig? Du verschreckst die Frau. Sie macht jetzt schon dicht!, hakte Heide nach: »Alexandra Rosenbring starb bereits im September 1992. War sie krank? Woran ist sie gestorben?«
»Da weiß ich nichts drüber. Ich weiß nur, dass der liebe Gott den Menschen ihre Sünden vergibt, wenn sie tot sind, und das ist auch gut so.« Tante Martha presste die Lippen zusammen. Sie riss Dieter die Karte aus der Hand, überlegte einen Moment und fügte klagend hinzu: »Ich vergess schon viel. Das liegt am Alter. Das darf mir niemand übelnehmen.«
»Musste Gott Alexandra vergeben?«, fragte Heide verwundert. »Alexandra Rosenbring war achtzehn Jahre alt, als sie starb. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, welche Sünden sie auf ihr Gewissen geladen haben soll, die Gott ihr vergeben müsste.«
»Ich vergesse viel«, wiederholte die alte Dame. Sie fuhr mit beiden Händen durch die Luft und verscheuchte dabei missmutig dieselbe Fliege, die sich bereits zuvor auf ihrem Blusenärmel niedergelassen hatte und die nach dem ersten misslungenen Angriff ein süßes Örtchen auf dem Konfekt vor Dieters Nase gefunden hatte.
»Zu viel!«, klagte sie zornig, ehe sie nach dem Glasdeckel griff und die Leckereien erneut in der Bonbonniere verschloss. »Ich vergesse viel zu viel. Das liegt am Alter.«
Dieter runzelte skeptisch die Stirn. Er hob den Deckel der Bonbonniere wieder an, betrachtete die Pralinchen, wählte mit Bedacht eine Marzipankugel, schob sie sich in den Mund und nahm eine Nusspraline, ehe er den Deckel zurücklegte und kauend erwiderte: »Das glaube ich Ihnen nicht, Frau Holtmanns. Ich
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