Der Puppenfänger (German Edition)
war er nicht imstande, sich zu konzentrieren, war desorientiert und würde möglicherweise sogar bald in ein Delirium fallen.
Der Schattenmann zog den Stuhl vor Geralds Füße, setzte sich und reichte ihm eine volle Wasserflasche, deren Verschluss bereits abgeschraubt war.
»Sie zeigen mir ihre blonden Haare, die schlanke Taille und ihre langen Beine. Ihre Brüste, jung und schön, aber nicht unschuldig! Doch süß und zart!«, raunte Gerald dem Schattenmann verschwörerisch zu, nachdem er getrunken hatte. Fast im selben Moment fiel ihm ein, was Gunnar ihm damals versprochen hatte. Sie ist heute dein Püppchen, hatte Gunnar gesagt, und sie gehört dir allein. Dein Püppchen will, dass man es jagt und mit ihm Bolero tanzt. »Gunnar und ich sind wie verrückt nach dem Puppenfangen gewesen«, wisperte er und überlegte schwerfällig, dass es nur am Wasser lag, dass seine Püppchen ihn besuchten, obwohl er sie nicht gerufen hatte. Es lag am Wasser, das seine Entführer ihm viel zu spärlich zuteilten. Flüssigkeitsmangel, Gerald! Deswegen geht es dir miserabel. Deswegen zeigt sie dir ihr weißes Gesicht und ihre angsterfüllten Augen. Deswegen hörst du Gunnars Stöhnen und fühlst Begierde und erinnerst dich an das Gefühl der Macht, als wäre es gestern geschehen. Flüssigkeitsmangel, Schöllen!
Ab Papa! Du bit böte, un Ichad it lieb. Ichad! Ichad! Ichad! Ab Papa! Du bit böte, un Ichad it lieb. Ab Papa! Du bit böte, un Ichad it lieb. Ab Papa! Du bit böte, un …
Wer ist Ichad? , hallte plötzlich und unerwartet Gunnars Stimme durch den Raum. Gerald fuhr erschrocken zusammen und entdeckte, dass sein Bruder sich zu der kleinen Paula unter den Tisch gehockt hatte, eine Fratze zog und ihm mit der Faust drohte. Flüssigkeitsmangel, Gerald Schöllen! Du phantasierst. Niemand sitzt unter dem Tisch. Verflucht noch einmal, du kleiner Hosenscheißer! , brüllte Gunnar. Sag mir endlich, wer Ichad ist!
»Wer ist Ichad?«, fragte Schöllen laut.
»Ichad ist der Mann, mit dem Simone dich betrügt. Ichad ist der Mann, der bald der Vater deiner Kinder sein wird«, krächzte der Schattenmann.
»Du lügst, du Schwein!« Einbildung, Gerald Schöllen!, knallte es durch Geralds Kopf. Flüssigkeitsmangel! Sobald du getrunken hast, wird es dir bessergehen. Du wirst dich mit Simone versöhnen und ihr versprechen, dass du sie nie wieder schlagen wirst. Plötzlich fiel ihm ein, was der Schattenmensch seit langem von ihm forderte und auch, dass dieser Mistkerl erst Frieden gab, wenn er –? Was? Wenn er seinen Namen unter ein beschissenes Dokument setzte, in dem der Dünnschiss stand, den er selbst erzählt hatte. Rotz, der niemanden interessierte, verquirlte Scheiße, die er endlich vergessen wollte. Er öffnete den Mund, fuhr mit seiner ausgetrockneten, pelzigen Zunge über die Lippen, fühlte die Risse und Krusten darauf und sah, dass der Schattenmann zuerst seine Handfesseln löste, danach die an den Füßen und zuletzt die Schnur, die seinen Oberkörper am Pfosten festhielt. Aus der Ferne registrierte er, dass die Hände des Schattenmannes unter seine Ellenbogen griffen und ihm auf die Beine halfen.
Man unterschreibt nicht sein eigenes Todesurteil, du dreckiger Hosenscheißer! , schrie Gunnar, der unter dem Tisch hervorgekrochen kam.
»Ich hab Durst, Gunnar«, lallte Gerald.
M ONTAG, DEN 18. A PRIL 2011
Die Standuhr in der Diele zeigte genau 7.00 Uhr, als es an der Wohnungstür klingelte. Richard Wanner deponierte seinen vollen Kaffeebecher im Schlafzimmer auf einer Kommode, schlüpfte in seine Jeans, setzte die Brille auf und sah sich nach seinem hellblauen Pullover um. Wahrscheinlich hatte er ihn bei Simone vergessen. Er ging in die Diele und öffnete mit nacktem Oberkörper die Tür, ohne vorher durch den Spion zu schauen.
Simone hatte ihm die Kripobeamten derart exakt und ausführlich beschrieben, dass er sofort wusste, wer in aller Herrgottsfrühe vor ihm stand. Nur einen Wimpernschlag lang wunderte er sich über den Zeitpunkt ihres Erscheinens, bevor er begriff, dass sie die frühe Stunde bewusst nutzten, um das Überraschungsmoment auf ihrer Seite zu haben und ihn zu verunsichern. Er ignorierte den Ausweis, den der lange Blonde ihm hinhielt, und registrierte nur, dass der Kommissar sich mit dem Namen Fuchs vorstellte, den auch Simone ihm genannt hatte. Der kleinere der beiden, von dem sie auch gesprochen hatte, trug den Namen Haila. Er führte die Beamten in den Wohnraum, bot ihnen einen Platz in der dunkelblauen
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