Der Puppenfänger (German Edition)
Hand ins Feuer legen. Außer ihnen und seinem Cousin Thomas konnte niemand wissen, dass er und Simone seit Monaten ein Paar waren. Auch ihre Schwester Beate nicht.
›Der Dunkelhaarige ist ungeduldiger gewesen‹, hatte Simone erzählt. ›Dafür hat der andere mich dermaßen intensiv beobachtet, dass ich nicht mehr richtig denken konnte. Während dieser entsetzlichen Fragestunde hat er Paula indirekt praktisch als Waffe benutzt und mich mit ihrer Hilfe total verunsichert. Er ist raffiniert, vielleicht sogar durchtriebener und gemeiner als sein Kollege. Möglicherweise arbeiten sie aber auch genauso, wie man es immer im Krimi sieht: Der eine übernimmt die Rolle des Bösen und der andere die des Verständnisvollen. Sie sprechen sich vorher ab und machen dich während der Befragung so kirre, dass du nicht mehr weißt, wo oben und wo unten ist.‹
*
Beate, die dazu neigte, sich an sorgenvollen Tagen mit Aufback-Pizza zu trösten, hatte am Sonntagabend mit Entsetzen festgestellt, dass sie, seitdem ihr Schwager verschwunden war, mindestens ein Kilo Gewicht zugelegt hatte. Daraufhin hatte sie entschieden, das Kummerkilo ebenso schnell abzutrainieren, wie sie es sich angegessen hatte. Sie war früh aufgestanden, hatte ihre Sportschuhe angezogen und war losgerannt. Wobei sich die Auswahl der Laufstrecke komplizierter erwies als sonst, da sie krankgeschrieben war und möglichst von niemandem gesehen werden wollte. Deshalb wählte sie eine Strecke durch den Wald.
Den Entschluss, bei Simone eine kleine Pause einzulegen, traf sie, als sie nach einer Viertelstunde bemerkte, dass ihre Kondition wesentlich schlechter war als zuvor vermutet. Sie schaltete geschwind von Laufen auf Spazierengehen um, betrat das Grundstück des Ehepaars Schöllen von der rückwärtigen Seite, schaute durch die Terrassentüren in den Wintergarten, warf einen Blick durch das Wohnzimmerfenster, klopfte ans Küchenfenster, stellte überrascht fest, dass ihre Schwester nicht zu Hause war und dass die Alarmanlage – wie tagsüber üblich – nicht scharf geschaltet war.
Sie zog ihren Schlüsselbund aus der Tasche ihrer geliebten, ausgewaschenen braunen Jogginghose, betrachtete ihn lange und staunte. Simones Haustürschlüssel hing nicht mehr an dem Ring, an dem Beate ihn selbst befestigt hatte. Sie überlegte und kam zu dem Schluss, dass nur ihre Schwester ihn abgenommen haben konnte. Ihre Verwunderung schlug rasch in Unmut um. Aus dem Unmut wurde Entrüstung, und die Entrüstung steigerte sich zur Wut. Wenn nicht mit meinem Schlüssel, dann eben auf einem anderen Weg, beschloss Beate zornig.
In der Regel deponierte ihre Schwester einen Ersatzschlüssel für Notfälle unter einem blauen Keramiktopf, der neben dem Garagentor stand – doch aus Gründen, die sich Beate lediglich allmählich erschlossen und die sie in Rage brachten, lag auch dort kein Schlüssel. Sie ließ ihren Blick über die rückwärtige Hauswand schweifen, betrachtete die Balkongeländer, registrierte erfreut, dass eine der Glastüren offen stand und zwei weitere gekippt waren. Stand nicht im Geräteraum neben der Garage eine Leiter? Ließ Simone diese Tür nicht immer geöffnet, damit die Kinder jederzeit ihre Roller, Räder und Kettcars herausholen konnten? Sie drückte den Türgriff der weiß angestrichenen Metalltür nach unten und stellte gleich darauf fest, dass ihre Vermutung richtig gewesen war. Die lange, schmale Leiter war aus Aluminium und somit leicht zu tragen.
Durch die angelehnte Balkontür betrat sie Ingas Zimmer, wunderte sich über die veränderte Einrichtung, über einen hellblauen Herrenpullover und über ein schwarzes, transparentes Etwas, das auf einem ungemachten Bett lag. Bisher hatte sie keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, welche Nachtwäsche ihre Schwester trug. Im Grunde genommen interessierte es sie auch nicht, mit wem Simone schlief. Aber das Wissen, dass Simone Geheimnisse vor ihr hatte und ihr dabei ständig vorspielte, wie eng und vertraut sie miteinander waren, kränkte sie tief und trieb ihr Tränen in die Augen.
Wer der Besitzer des Herrenpullovers war, wusste Beate, als sie das Logo mit den vier Buchstaben auf dem Ärmel entdeckte. Marianne Wanner kaufte bevorzugt diese Marke, und ihr Sohn Richard hatte sie seit jeher getragen. Mehrere Gepäckstücke, die im Korridor standen, versperrten den Zutritt zu Simones Ankleideraum und zum Bad. Beate schob sie ungeduldig mit den Füßen beiseite, betrachtete eine Zeitlang den roten Reisekoffer
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