Der Rache Suesser Klang
spielten wir im Sommer immer zusammen – wir waren die drei Musketiere. Aber dann wurden wir älter, und Stans Interessen drifteten von unseren ab. Richard und ich sollten auf die Akademie gehen. Stan kaufte sich direkt nach der High School ein Motorrad und brauste los. Geriet in Schwierigkeiten. Irgendeine Ordnungswidrigkeit, glaube ich, nichts Wildes. Aber seine Eltern waren enttäuscht. Stan ließ sich also widerwillig ins Geschäft seines Vaters einspannen, und Richard und ich gingen zur Akademie. Danach war eigentlich nichts mehr wie früher. Stan betrachtete Richard und mich als die Lieblingssöhne seiner Eltern.« Ethan zuckte die Achseln. »Obwohl ich natürlich nicht ihr Sohn bin.«
»Und Alec ist auch nicht Stans, richtig?«, fragte Clay.
»Nicht im biologischen Sinn, das stimmt«, antwortete Ethan und dachte wieder an den Tag vor zehn Jahren, der so schön gewesen war. »Als Stan und Randi sich kennen lernten, war sie eine allein erziehende Mutter, die versuchte, sich mit einem Kellnerinnengehalt über Wasser zu halten. Sie war mit Alecs Vater nicht verheiratet. Stan hat nach der Hochzeit Alec adoptiert.« Er seufzte. »Sie waren einmal eine glückliche Familie, Clay. Wirklich glücklich.«
Clay schwieg lange. »Warum haben Stan und Randi so lange damit gewartet, Alec operieren zu lassen? Wenn er schon mit zwei Meningitis gehabt hat, warum dann erst mit neun?«
Daran konnte sich Ethan noch sehr gut erinnern, und er hatte selbst einige Schlüsse gezogen. »Die Operation ist sehr teuer – über fünfzigtausend Dollar –, und die Versicherung deckt das nicht ab. Damals hatten die beiden nicht genug Geld. Stan arbeitete im Elektrogeschäft seines Vaters und kam gerade so über die Runden. Wir alle halfen mit, etwas zum Sparkonto für Alec beizutragen, aber Richard konnte nicht viel abzweigen. Er hatte auch eine Familie.«
»Drei Töchter, richtig?«
Ethan dachte an sie, dachte an die kleinen Mädchen, die der Mittelpunkt in Richards Leben gewesen waren. Die kleinen Mädchen, die nun ohne Vater aufwachsen mussten. Der Kummer verengte ihm die Kehle, aber Ethan schluckte ihn entschlossen hinunter. »Ja. Dann fing Stan an, das Geschäft seines Vaters auszudehnen. Er eröffnete neue Läden. Und verdiente letztendlich genug, um Alecs OP bezahlen zu können.«
»Wobei er sich einen Feind gemacht haben könnte, der ihn genug hasst, um seinen Sohn zu entführen?«
»Der Gedanke ist mir schon auch gekommen. Stan hat mir versprochen, eine Liste von Kunden und Zulieferern zu erstellen.«
Clay nickte knapp. »Glaubst du, dass sie Alec umbringen werden, wenn wir jetzt die Polizei benachrichtigen?«
Ethan hatte die Frage erwartet, und er hatte sie sich selbst bestimmt schon hundert Mal gestellt, seit Stan ihn um Hilfe gebeten hatte. »Sie haben bereits einen Mann getötet. Viel zu verlieren haben sie nicht. Stan und Randi jedenfalls glauben es, und sie werden bestimmt nicht anrufen. Falls sich Polizei oder FBI einmischt, dann nur, weil wir ihnen Bescheid geben. Aber ich könnte nicht mit dem Wissen leben, dass Alec sterben musste, weil wir es getan haben.«
»Was ist mit ihm?« Clay deutete mit dem Kopf auf den Schuppen.
»McMillan? Natürlich muss Stan melden, dass er ihn gefunden hat. Er kann behaupten, es habe einen Selbstmord auf seinem Grundstück gegeben. Vielleicht kann die Ortspolizei ja etwas am Körper des Mannes finden, das uns weiterbringt.«
»Und meinst du, dass Stan es tun wird?«
Ethan schürzte die Lippen. Versuchte, seine Erinnerungen an den Stan von früher mit dem Mann in Einklang zu bringen, der vorhin vorgeschlagen hatte, die Leiche eines unschuldigen Mannes im Meer zu versenken. »Wenn er will, dass wir ihm helfen, wird er es wohl müssen.«
Wieder schwieg Clay eine lange Weile. »Dann lass uns mal sehen, ob wir die E-Mail zurückverfolgen können.«
Chicago
Freitag, 30. Juli, 22.45 Uhr
Dana stand am Ostausgang des Busbahnhofs. Es war der am wenigsten auffällige Platz, die beste Stelle, wenn man nicht gesehen werden wollte. Sie wusste nicht mehr, wie oft sie über all die Jahre hinweg schon hier gewesen war, aber sie vergaß keine der Frauen, die sie hier getroffen hatte. Das Gesicht einer jeden war unauslöschlich in ihrer Erinnerung eingebrannt. Sie kamen aus allen Gesellschaftsschichten, von allen möglichen Orten, waren in jedem Alter. Ihre Wege hätten sich vermutlich unter normalen Umständen niemals gekreuzt, aber diese Frauen lebten nicht unter normalen Umständen.
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