Der Ramses-Code
griechischen Text geschrieben. Nun hat es also ein Mister Young nachgewiesen – was für eine wissenschaftliche Glanztat! Er beweist, daß die Übersetzung dasselbe bedeutet wie das Original. Und damit du mir das mitteilen kannst, störst du mich beim Unterricht?«
»Moment mal« – Jacques-Joseph hob abwehrend die Hände –, »ich bin nicht blöde, mein Lieber, und ich kann sehr wohl einschätzen, was diese Arbeit wert ist, die du – für meine Begriffe völlig unbegründet – kleinredest. Ein Mann, der imstande ist, aus diesem kruden demotischen Schnörkelwirrwar einzelne Worte herauszubuchstabieren, der kann sie vielleicht auch bald korrekt lesen.«
»Die Schrift hältst du nur deswegen für wirr und krude, weil du dich nicht täglich mit ihr beschäftigst; mir erscheint sie strukturiert und klar. Und was das Herausbuchstabieren einzelner Worte anbetrifft, so ist genau das noch niemandem gelungen, weil die demotische Schrift aus zu vielen verschiedenen Zeichen besteht, als daß es reguläre Buchstaben sein könnten. Aber das weißt du schließlich alles. Vertrau mir: Dieser Artikel enthält bloß heiße Luft.«
Mit skeptischer Miene hörte der Ältere zu, aber erwiderte nichts.
Ein paar Tage später, es war der Abend des 4. März 1815, überbrachte Jacques-Joseph neuerlich höchstwichtige Nachrichten, nur daß er diesmal mit hochrotem Kopf und unter lauten »Jean-François!«-Rufen in die Städtische Bibliothek polterte. Der Bruder erschrak bei seinem Anblick – diesmalmußte wirklich etwas Ungeheuerliches geschehen sein. Während sich hinter seiner Stirn vage ein Gedanke aufbaute, der zur Fassungslosigkeit passen mochte, die in Jacques-Josephs Gesicht geschrieben stand (nämlich: »Thomas Young hat die Hieroglyphen entziffert!«), hörte er ihn rufen: »Etwas Unglaubliches ist geschehen: Napoleon hat Elba verlassen und marschiert auf Grenoble zu!«
Jean-François holte tief Luft. Während er noch überlegte, was das wohl zu bedeuten hatte, erzählte Jacques-Joseph aufgeregt: »Napoleon ist am 1. März im Golf von Juan gelandet. Er hat nur die Alte Garde bei sich, ein paar hundert Mann, aber jeder einzelne ist so viel wert wie zehn reguläre Soldaten. Die Meldung ist soeben bei Fourier eingetroffen. Wir dürfen noch nicht darüber reden, es wird morgen in der Frühe amtlich bekanntgemacht.«
»Aber morgen ist doch Sonntag«, war das einzige, das Jean-François dazu einfiel.
Jacques-Joseph nahm in seiner Begeisterung keine Notiz davon, sondern machte die Geste des Halsabschneidens und sagte: »Schluß mit Fontanes, Schluß mit Artois! Jetzt wird der Adel laufen lernen! Er fegt sie alle weg! Wir sind bald wieder frei!«
Mit diesen Worten enteilte er wieder. Jean-François sah ihm kopfschüttelnd hinterher. So kannte er seinen Bruder gar nicht. Der sanfte Jacques-Joseph. Und was hieß, man sei bald wieder frei? Als ob er unter dem Kaiser frei gewesen wäre! Überhaupt: Wer sagte denn, daß Napoleon in die Stadt gelassen werden würde? Immerhin stand hier eine starke Garnison mit einem royalistischen General an der Spitze; die Stadtmauern waren fest, und die Verteidiger verfügten, im Gegensatz zu den Angreifern, über Kanonen. Außerdem würde der König, sobald er von Napoleons Marsch erfuhr, Truppen gegen ihn aussenden. Vielleicht mußte er Jacques-Joseph zurückhalten, damit der keinen Unsinn anrichtete. Was, wenn Napoleon geschlagen würde, und der Bruder hatte zuvor den Bonapartisten hervorgekehrt? Man würde ihn am Ende füsilieren!
Am nächsten Morgen wurde die Nachricht durch Anschläge an den Häuserwänden bekanntgegeben. Im Nu befand sich die gesamte Stadt auf den Beinen. Überall standen Menschengruppen und diskutierten lautstark. Offiziere eilten in die Garnison, Kaleschen ratterten durch die Straßen. Jean-François hatte Jacques-Joseph in der Präfektur abgeholt und wich seinem Bruder nicht von der Seite. Er sah den Großmeister der Universität mit bleichem Antlitz in Richtung Präfektur hasten, was diesem bei seiner Beleibtheit sichtlich Mühe bereitete, und der Anblick trieb ihm ein spöttisches Grinsen ins Gesicht. Für einen Moment begegneten sich beider Blicke, dann eilte der Marquis weiter, so gut er konnte. Gerüchte schwirrten. Die Bauern, hieß es, eilten in Scharen an die Landstraßen, um Napoleon zu huldigen, ein Bataillon Infanterie und eine Abteilung Pioniere seien inzwischen zu ihm übergelaufen, und sowohl im Magistrat der Stadt als auch in der Garnison sei die Stimmung
Weitere Kostenlose Bücher