Der Ramses-Code
Sprache der neuen Situation anpaßten, indem sie sie mit griechischen Buchstaben weiterschrieben. Nur für jene sieben Laute, für die sie im Griechischen keine Entsprechung fanden, setzten sie weiterhin die alten Zeichen.«
»Eine kühne Theorie«, sagte Sacy.
»Was für ein Unsinn«, hielt der »Tatar« dagegen. »Koptisch ist eine griechisch-arabische Mischsprache. Nichts deutet darauf hin, daß Ägyptisch darin verborgen liegt.«
Jean-François wollte auffahren, aber er gewahrte den mahnenden Blick seines Bruders und schwieg.
Jacques-Joseph lenkte das Gespräch auf Formalitäten wie den genauen Studienbeginn und die Zusammensetzung des Lehrstoffs; dann erkundigte sich Sacy, ob er denn bei Gelegenheit einen Blick in seines neuen Schülers Arbeit über das Pharaonenreich werde werfen dürfen. Jean-François versicherte, daß ihm dies eine Ehre sei. Man sprach über Sacys arabische Grammatik, wobei der Orientalist mit Genugtuung zu Kenntnis nahm, daß sein Neuzugang nicht nur reges Interesse am Arabischen zeigte, sondern in der Handhabung auch schon weit fortgeschritten war. Jean-François erklärte, er habe vor, alle Sprachen, Dialekte und Idiome rund um Ägypten zu studieren, die überlieferten wie die derzeitigen, um sich auf diese Weise peu à peu seinem favorisierten Gebiet zu nähern, sowohl geographisch, denn er beabsichtige, sämtliche irgendwie namentlich überlieferten Orte zu lokalisieren, als auch philologisch –
»Denn Sie werden die Hieroglyphen entziffern, nicht wahr?« unterbrach ihn Langlès, und er sagte es nicht ironisch, sondern eher gehässig.
Statt des Befragten antwortete der Hausherr. »Ich glaubenicht, daß irgend jemand die Inschrift auf dem Rosette-Stein dechiffrieren wird«, sagte Sacy mit Entschiedenheit. »In diesem Fall hängt ein möglicher Erfolg nämlich nicht von Methode, Aufwand oder Hartnäckigkeit ab – und auch die intimste Kenntnis aller uns aus diesem Teil der Erde bekannten Mundarten führt nicht zum Ziel. Es bedürfte vielmehr, wie bei jeder reinen Rätselraterei, einer glücklichen Kombination von Zufällen. Aber an die mag glauben, wer die Illusion für die Realität nimmt.«
Das war ein Donnerwort der obersten Autorität für orientalische Fragen, gesprochen, um das Thema zu beenden, bevor es überhaupt zur Diskussion kam, doch Jean-François dachte gar nicht daran. Ohne auf den beschwörenden Blick seines Bruders zu achten, sagte er: »Bei allem Respekt, aber ist es nicht voreilig, gleich alle Hoffnung fahrenzulassen? Sollte man es nicht der Zeit anheimstellen, hier Klarheit zu schaffen?«
»Zeit ist genug verstrichen, Monsieur Champollion, und über den Inhalt Ihrer Hoffnungen mag ich natürlich nicht befinden«, entgegnete Sacy. »Aber wer sich der Illusion verschreibt, wird es nicht weit bringen in der Wissenschaft. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann diesen: Verschwenden Sie nicht die Zeit mit fruchtlosen Experimenten, quälen Sie sich nicht mit unrealistischen Zielen, verrennen Sie sich nicht in Spitzfindigkeiten. Damit ist weder Ihnen noch unseren Forschungen gedient.«
»Und wer legt fest, was fruchtlos, unrealistisch und spitzfindig ist?«
Für einen Moment herrschte Schweigen. Nur das Ticken der Kaminuhr und die durch die dicken Mullvorhänge gedämpften Geräusche der Straße waren zu hören.
Dann sagte der Orientalist: »Die Einsichtigen unter den Phantomjägern lernen es am eigenen Mißerfolg. Die anderen begreifen es nie.«
»Aber Sie waren ja auch einmal ein Phantomjäger, denn Sie haben selbst versucht, den Stein zu lesen«, rief Jean-François und spürte, wie ihm der Bruder auf den Fuß trat.
Sacy lächelte gequält. »Zwangsweise«, erklärte er. »Napoleonhat es sozusagen befohlen. Aber es gibt Dinge, die kann man nicht befehlen – nicht einmal er .«
»Da hörst du’s«, sagte Jacques-Joseph. »Dein Kopf wird auch jenseits dieses kruden Steines und seiner unlesbaren Hieroglyphen genug zu tun bekommen, nicht wahr, Monsieur Sacy?«
»Gewiß«, erwiderte der Angesprochene, und Jean-François senkte demütig, aber innerlich kochend, den Blick.
Langlès bohrte weiter. »Sie müssen wissen«, sagte er zu den Brüdern, »daß in dieser Stadt, die sehr empfänglich ist für obskure Geheimnisse, seit einiger Zeit eine Seuche grassiert: die Hieroglypendeutung. Allerlei Scharlatane meinen, daß diese kindische Bilderschrift sämtliche Welträtsel in sich berge. Die einen behaupten, die Hieroglyphen seien die Universalsprache, die vor
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