Der Ramses-Code
Dinge von sich geben, die dir sonstwie suspekt sind, dann kann ich dich gleich wieder mit nach Grenoble zurücknehmen, weil sie dich am Collège ohnehin auflaufen lassen werden! Es geht hier nicht darum, ob du im Recht bist oder nicht, es geht um deine Zukunft! Du hast nichts in der Hand, womit du deine Behauptungen stützen kannst, also halt den Mund! Beweise, was du kannst, aber rede nicht vorher neunmalklug daher! Schwätz nicht dauernd von den Hieroglyphen, sondern entziffere sie! Hast du mich verstanden?«
Jean-François war entsetzt über den Wutausbruch des Älteren. Nie hatte er so etwas für möglich gehalten; schließlich war er überzeugt davon, daß Jacques-Joseph ihn bedingungslos liebte, ihn für ein kleines Genie hielt, und nun stauchte er ihn zusammen wie einen dahergelaufenen Taugenichts. Er fühlte sich auf einmal entsetzlich einsam in dieserfremden, lärmenden Stadt mit ihrem Ameisengewimmel von teilnahmslosen Menschen, unter denen er fortan leben sollte – allein, ohne den Bruder, unterrichtet von Lehrern, die ihn jetzt schon nicht mochten und vielleicht sogar haßten. Tränen traten in seine Augen.
»Nun, nun«, brummelte Jacques-Joseph und legte den Arm um seine Schulter.
»Ich bin ein Niemand«, sagte Jean-François mit erstickter Stimme, »eine kindische, dilettantische Null.«
»Red keinen Unsinn! Wer sagt denn so etwas?«
»Du.«
»Mit keiner Silbe! Du bist ein Kindskopf, schon richtig, und ein bißchen mäßigen wirst du dich müssen, sonst wird dir dein Weg zum Ruhm sauerer werden, als er es ohnehin schon ist, weil zur Arbeit noch die Neider und Fallensteller kommen.«
»Aber ich werde mich ja bessern.«
»Hoffentlich.«
Und sie gingen heim.
11
Jacques-Joseph und seine Gemahlin blieben acht Tage in Paris. Hin- und Rückfahrt eingerechnet, währte ihre Abwesenheit von Grenoble also genau zwei Wochen; länger hatte Fourier seinen Sekretär nicht entbehren können. Der Abreisemorgen war neblig wie nahezu jeder Tagesanbruch hier, wobei jener Nebel meist keine meteorologische Erscheinung darstellte, sondern als Folge des ungeheuren Brennholzverbrauchs der Hauptstadt auftrat. Schon bei Tagesanbruch rauchten die Kamine der zahllosen Küchen, Bäckereien, Cafés, Hotels und Privatwohnungen, und der Dunst blieb lange über dem Häusermeer zwischen den drei Hügeln stehen.
Jean-François wartete bereits an der Poststation, als Bruder und Schwägerin, einen Gepäckträger im Schlepptau, der die Reiseutensilien des Paares auf einem Karren schob, dorteintrafen. Das Gepäck wurde aufgeladen, Frau Zoë reichte dem Schwager zum Abschied die Hand, gab ihm einen Kuß auf die Wange, wünschte ihm viel Erfolg und bat ihn, regelmäßig zu schreiben. Außerdem empfahl sie – und ihre Augen blitzten schelmisch dabei –, er möge sich vor den Pariserinnen in acht nehmen, denn schon mancher habe angesichts dieser Damen den Verstand verloren, und ohne Verstand lasse sich schlecht studieren. Dann stieg sie in die Kutsche.
»Machen wir den Abschied kurz«, sagte Jacques-Joseph. Er drückte den Bruder an seine Brust, schob ihn wieder von sich und sah ihm, die ausgestreckten Arme auf seinen Schultern, fest ins Auge. »Zwischen uns ist alles abgesprochen. Deine Studien sind die eines dreißigjährigen Gelehrten, du mußt also die ganze Vernunft dieses Alters besitzen. Zügle dein Temperament, mäßige deinen Stolz, und halte das Geld beeinander. Und was auch immer geschieht – ich bin für dich da.«
Der Kutscher knallte mit der Peitsche, die Pferde ruckten an, man winkte sich noch einmal zu – und der Wagen rollte davon.
Jean-François blickte eine Weile hinter dem Postgefährt her. Ihm war seltsam zumute, und er hatte den Eindruck, wenn er jetzt weiter auf der Stelle stehenbliebe, müsse er in Tränen ausbrechen. Mechanisch trabte der junge Mann in Richtung Seine, denn der Fluß erschien ihm als einzige Orientierung im unbekannten Häusergewirr. Vor der Austerlitzbrücke bog er ab, lief einige hundert Meter flußaufwärts und ließ sich nahe einer Kastanie auf der Ufermauer nieder. Hier saß er nun und dachte über nichts Geringeres als sein Leben nach.
Zum ersten Mal war er allein und nur auf sich gestellt, inmitten von mindestens 600 000 Menschen, und außer seinem Vermieter kannte er niemanden. Er stand am Ziel seiner Wünsche und bekam es mit der Angst zu tun. Hatte er sich zuviel zugemutet? Wenn er jetzt in die Seine fiele und ertränke, niemand nähme Notiz davon. Man würde ihn aus dem
Weitere Kostenlose Bücher