Der Ramses-Code
verletzten Kameraden ins Hôtel-Dieu, das große Spital im Zentrum der Cité. Jean-François trat zurück, ließ sie passieren und sah eine Weile sinnend auf ein schmales Blutrinnsal, das der Trupp hinter sich herzog, aber schnell schloß sich die Gasse wieder mit wogenden Menschenmassen, die weiter Geflügel einkauften, als wäre nichts geschehen.
Der Spaziergänger verließ das Getümmel in südliche Richtung und erreichte den Quai des Orfèvres. Hier hatten sich vor allem Juweliere, Goldschmiede und Schmuckhändler niedergelassen, so daß jede der Uferstraßen ein spezielles Zunftgepräge zur Schau stellte. Eine alte Hökerin bot ihm aus ihrem Korb Plaisiers an, kleine Kuchenstücke aus Reismehl und Honig, und da ihm bei dieser Gelegenheit auffiel, daß er noch nichts gegessen hatte, kaufte er zwei. Kauend blieb er vor dem Geschäft eines Modehändlers stehen. Eigentlich solltest du über deinen persischen Handschriften sitzen, dachte er, während er durch ein offenes Fenster auf all die Tücher und Schals, Gewebeballen, Kleider und extravaganten Damenhüte blickte, die drinnen feilgeboten wurden. Was das wohl kosten mochte? Er versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn er irgendwo in der Stadt eine Freundin oder – nun ja, warum nicht? – eine Geliebte hätte und nun ein Geschenk für sie auswählen würde. Er dachte an die Barschaft, die der Bruder ihm dagelassen hatte und die er bei sich trug, und die Gewißheit, zumindest theoretisch etwas kaufen zu können, stimmte ihn unternehmungslustig. Mit einem jähen Entschluß trat er in das Geschäft.
In der Boutique roch es angenehm nach Parfüm und Blumen. Eine junge Dame, die vor einem goldgerahmten, ovalen Stehspiegel verschiedene Wollschals anlegte, welche ihr ein Verkäufer reichte, war anscheinend die einzige Kundin im Laden. Jean-François sah sich um. Das Geschäft war sehr vornehm eingerichtet, mit viel dunkler Holzverkleidung, Wandspiegeln und vergoldeten Leuchtern dazwischen, aber der Student, solchen Luxus nicht gewohnt, fühlte sich unbehaglich. Er bereute bereits seine spontane Idee, als sein Blickin den ovalen Spiegel fiel und dort auf jenen der mit dem Rücken zu ihm stehenden Frau traf.
Es waren hellblaue Augen mit einem Stich ins Türkise, in die er blickte, diffus funkelnd und zugleich kristallklar, wie die Alpengletscher über Grenoble, wenn im Abendglühen Licht und Schatten darin abwechselnd spielten. Eine wilde Sehnsucht ergriff ihn bei diesem Anblick, so süß wie das Lächeln, das plötzlich auf das Antlitz im Spiegel trat – da begriff er, daß er Maulaffen feilhielt, und drehte sich verwirrt weg. Aber er mochte sich wenden, wohin er wollte: Überall in diesem Geschäft waren Spiegel, und aus jedem einzelnen schienen ihn diese Augen anzublicken. Nervös griff er nach einem Damenhut, der unmittelbar vor ihm auf einer metallenen Halterung schwebte und sich nicht gleich lösen wollte, es aber dann, da er heftiger zerrte, doch tat. Dabei entglitt er allerdings seinen Händen und fiel zu Boden. Schweiß trat Jean-François auf die Stirn. Er bückte sich, hob das federleichte Geflecht aus Bast und Seide auf und wollte es eben an seinen Ursprungsort zurückbefördern, als ihn eine säuselnde Tenorstimme von der Seite anredete: »Monsieur, Sie suchen einen Hut? Für die Gattin? Die Freundin?« – die Stimme senkte sich ins Baritonale – »Die Frau Mama?«
Neben Jean-François stand der Verkäufer, ein dürres Männchen, das die feingliedrigen Händchen in Brusthöhe verschränkt hielt und ihn beflissen anlächelte, zugleich aber den nicht ganz neuen und auch modisch etwas hinter dem Zeitgeschmack herhinkenden Rock des Studenten mit Blicken bedachte, die selbst ein blutjunger Stubengelehrter vom Alpenrand schwerlich mißverstehen konnte. Für eine Sekunde erwog Jean-François, ob er dem Männlein einfach den Hut in die Hand drücken und aus dem Laden stürzen sollte – aber vielleicht hielt man ihn dann für einen Dieb und rief nach den Gendarmen? Als er indes bemerkte, daß sich die junge Dame ganz unbeteiligt vor dem Spiegeloval drehte und ein weiteres Schaltuch begutachtete, das sie elegant um ihre Schultern geschlungen hatte, verwarf er die Fluchtidee und beruhigte sich etwas.
»Monsieur?« sagte der Verkäufer.
»Ja, einen Hut«, erwiderte Jean-François. »Für die – für meine Schwester.«
»Ah, bravo, der Bruder denkt an die werten Geschwister. Wie alt ist die Dame denn?« erkundigte sich das Männlein, während er seinem
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