Der Ramses-Code
Blickes mehr. Während er ziemlich desinteressiert die Hüte musterte, die das Männlein für ihn auf einem Tisch ausgebreitet hatte, erkundigte sie sich nach dem Preis des Schaltuchs. Monsieur Arnoud nannte ihn, und Jean-François begriff, daß er in einem Etablissement des gehobenen Niveaus weilte. Das sei ja sündhaft teuer, schmollte Madame Deschampes, prüfte nochmals ihr Spiegelbild und befand schließlich stirnrunzelnd: zu teuer. Sie wählte ein anderes Tuch, das sie zuvor anprobiert hatte, bezahlte es und schritt zur Tür, die ihr der quirlig vorauseilende Händler aufhielt. Sie ging kerzengerade und stolz, mit entzückenden kleinen Schritten, und als sie Jean-François passierte, bedachte sie ihn mit einem kurzen Seitenblick, den er zum Anlaß nahm, artig grüßend den Kopf zu senken. Dann entschwebte sie.
Wenig später verließ auch der andere Kunde die Boutique – wie sich denken läßt, ohne einen der Damenhüte gekauft zu haben. Hatte Monsieur Arnoud an diesem Vormittag also kein Geschäft gemacht? Doch. Der junge Mann ging nicht mit leeren Händen. Unter dem Arm trug er, zusammengerollt und fein verpackt, ein rotes Kaschmirtuch, das, kaum merklich, aber doch ganz leicht, nach dem Parfüm der Dame mit den Gletscheraugen duftete.
12
Paris, den 25. November 1807
Mein bester Jacques-Joseph,
nachdem ich Dich in den letzten Briefen vermutlich über die Maßen mit meiner Verzweiflung behelligt habe, allein am neuen Ort klarkommen zu müssen, noch dazu an einem Ort solcher Dimensionen, will ich heute Besserung geloben. Ich fühle zwar mitunter immer noch diese entsetzliche Leere in mir; ich greife dann aber sofort zur Arbeit, und wenn ich ganz darin aufgehe, werde ich ruhiger. Außerdem ist die studienfreie Zeit nun vorüber. Seither befinde ich mich wohler – daß ich zuvor den lieben langen Tag so ganz mit mir allein zu verbringen genötigt war, hat mich wohl noch extra melancholisch gestimmt, zumal der Pariser November nur Düsternis beschert und gar nicht zu vergleichen ist mit dem herrlichen Alpenglühen über Grenoble.
Von Paris habe ich nach wie vor nicht sonderlich viel gesehen. Nur in den Louvre gehe ich öfter, bleibe daselbst immer wieder lange Zeit vor dem Laokoon, dem Apoll von Belvedere oder der Mediceischen Venus stehen und preise die Weisheit jener Päpste, deren konservatorische Leidenschaft diese doch ganz und gar unchristlichen Kunstwerke für uns erhalten hat. Leider gab es im nachpharaonischen Ägypten zu keiner Zeit vergleichbar verständige Regenten.
Morgens breche ich um 8.30 Uhr zum Collège de France auf. Ich wohne dem Persisch-Unterricht bei Monsieur de Sacy bis 10.00 Uhr bei. Dann folgt der Hebräisch-, Chaldäisch- und Syrisch-Unterricht bei einem liebenswürdigen älteren Professor, dessen geradezu bestürzende Bedüfnislosigkeit – ich glaube, wenn es nicht unbedingt sein müßte, würde er sich nicht einmal ernähren – ihm unter den Studenten den Spitznamen »Diogenes« eingetragen hat. Bemerkenswerterweise hat er mich zu seinem Mitarbeiter beim Aufbau einer hebräischen Grammatik erhoben. Während dieser zwei Stunden bis 12.00 Uhr unterhalten wir uns in den orientalischen Sprachen, übersetzen Texte und befassen unseine halbe Stunde lang mit chaldäischer und syrischer Grammatik. Der Professor bezeichnet mich als den Patriarchen der Klasse, weil ich der Klassenprimus bin, und da inzwischen allgemein bekannt ist, daß meine spezielle Neigung dem Pharaonenreich gehört, nennt mich alle Welt hier den »Ägypter«.
Bei Sacy, der sich distanziert, aber durchaus freundlich zu mir verhält, habe ich neben Persisch auch Arabisch, und um des lieben Friedens willen belege ich auch zweimal zwei Stunden die Woche bei jenem Langlès, den wir weiland im Hause Sacys kennenlernten und der sein akademisches Zelt bald hier, bald dort aufschlägt, am liebsten jedoch in der Ebene von Samarkand und am Hofe Tamerlans. Ich habe jedoch nicht den Eindruck, daß er mich deswegen besser leiden mag.
Bei einem Professor für Archäologie höre ich Vorlesungen über Altertumskunde. Der Mann ist Napoleon-Anhänger reinsten Wassers, was Dir zwar gefallen würde, mich aber ärgert. Er ist alt genug, für die kämpfende Truppe nie mehr in Frage zu kommen, selbst wenn Paris belagert werden würde; er hat kein Lyzeum je von innen gesehen, geschweige denn Kanonendonner anders als aus der Ferne gehört, aber er preist die Waffentaten des Korsen und ist augenscheinlich der Ansicht, daß wir
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