Der rauchblaue Fluss (German Edition)
nennen.«
Zehntes Kapitel
Markwick’s Hotel, 26. November
Liebste Paggli,
so viele Neuigkeiten ! So viele Entwicklungen , nicht zuletzt auch, was Deine Kamelien anbelangt … doch davon später, sonst wäre, fürchte ich, der Rest dieses Briefes an Dich verschwendet. Und Du sollst doch wissen, liebe Paggli, dass ich noch nie so glücklich war wie in den letzten Tagen …
Lamqua hat mir erlaubt, sein Atelier zu benutzen, und ich verbringe dort viele frohe Stunden. Ich sitze neben Jacqua auf der Schülerbank und bin zu einem Experten in der Kunst des Schablonierens geworden. Er hat mir einige seiner kleinen Tricks beigebracht, zum Beispiel den, Fleischtöne auf die Rückseite des Papiers zu malen – du glaubst nicht, wie wunderbar durchscheinend und lebensecht die Haut dadurch wirkt! Aber einiges von dem, was er kann, bräuchte ich wohl nicht einmal zu versuchen . Seine Bilder sind nicht groß, aber wenn er Kleidung malt, glaubt man manchmal sogar die einzelnen Fäden des Stoffs erkennen zu können. Ich wette, Du würdest es einen ganz erstaunlichen Anblick nennen, wenn Du sehen könntest, wie er das macht: Er hält nicht nur einen Pinsel in der Hand, sondern zwei, der erste gerade so dick, dass er einen Tropfen Farbe aufnehmen kann. Der Zweite hat nur ein einziges Haar; Lamqua schnippt ihn gegen den anderen Pinsel und bringt so die Farbe auf das Papier – auf diese Weise entstehen Striche, die mit bloßem Auge kaum zu erkennen sind!
Manchmal gehen Jacqua und ich in Fanqui-Town und den Vorstädten spazieren, und er erzählt mir ein wenig von seiner Familie. Er wirkt so elfenhaft, dass ich erst dachte, er sei jünger als ich. Du kannst dir vorstellen, wie überrascht ich war, als ich erfuhr, dass er sogar etwas älter ist, Mitte zwanzig, und nicht nur verheiratet , sondern auch Vater von zwei Kindern, einem siebenjährigen Jungen und einem fünfjährigen Mädchen (er hat mir ihre Porträts gezeigt, die er selbst gemalt hat: Sie sind wahre Engel und wären an der Decke der Mantegna-Kapelle keineswegs fehl am Platz). Seine Frau hat abgebundene Füße, und ich würde zu gern ein Bild von ihr sehen, aber er behauptet, er habe keins (oder wenn er eins hat, will er es mir nicht zeigen), denn natürlich lebt sie streng im Verborgenen (anscheinend fast so streng wie die Frauen in gewissen Kreisen bei uns). Sein Haus scheint den weitläufigen Familienanwesen in Kalkutta nicht unähnlich zu sein – zahlreiche Höfe und mehr Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, als man zählen kann – , wenn auch mit dem Unterschied, dass etliche seiner Brüder und Cousins ebenfalls malen.
Aber genug davon … Ich weiß, Du möchtest endlich etwas über Deine Kamelien erfahren, und ich habe Dich lange genug warten lassen.
Leider, meine liebe Paggli, hat es übermäßig lange gedauert, bis ich wieder von dem Cohong-Kaufmann Punhyqua gehört habe, denn er hat sich auf seinen Landsitz auf der Insel Honam zurückgezogen, der Luftveränderung wegen! Aber gestern sagte mir Jacqua, dass er endlich geschrieben und uns aufgefordert hat, ihn dort zu besuchen. Und so sind wir heute Morgen aufgebrochen … Deshalb habe ich mich heute noch hingesetzt, um Dir zu schreiben, denn ich wusste, ich würde sonst so überwältigt sein, dass ich auf keinen Fall mehr die nötige Energie aufbringen würde – weil alles so überaus fremdartig, wunderbar und neu war! Selbst das Boot, das uns dorthin brachte, war eines, von dem ich mir nie hätte träumen lassen, dass ich es einmal aus freien Stücken besteigen würde – denn es war ein Coracle! Coracles sind schalenförmige runde Boote aus Schilf- und Strohgeflecht: Man sieht sie häufig auf dem Perlfluss, sie kreiseln über das Wasser, und wenn sich Kinder darin festklammern, sieht es aus, als würden sie in einem riesigen Korb fortgeschwemmt. In unserem saßen keine Kinder, sondern zwei junge Frauen, jede mit einem Ruder bewaffnet. Auch das ist ein alltäglicher Anblick in Kanton, denn viele der Boote auf dem Fluss werden von Mädchen und Frauen geführt. Aber du darfst Dir diese weiblichen Wesen nicht als zarte Geschöpfe mit abgebundenen Füßen vorstellen, zu scheu, um einem Mann in die Augen zu blicken. Es sind wahre Harpyien , und sie sagen Dinge, die selbst der hartgesottensten Teerjacke die Röte in die Wangen treiben würden. Der Tenor ihrer Neckereien wird Dir deutlich werden, wenn Du erfährst, wie sie mich ansprachen, als ich an Bord kam. Unnötig zu erwähnen, dass Coracles extrem instabil
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