Der rauchblaue Fluss (German Edition)
ihn perspektivisch malen. Auf einer Rolle dagegen entfaltet er sich vor dem Betrachter, von oben nach unten, wie eine Geschichte – man sieht ihn, als geschähe er; er entrollt sich vor dem Auge, als würde man ihn durchwandern.
Und dann, liebe Paggli, hatte ich einen Einfall, eine Vision, und ich blieb wie angewurzelt stehen. Sollte mein episches Gemälde nicht besser eine Rolle werden? (Ich müsste natürlich eine geeignete Bezeichnung dafür finden, denn »epische Rolle« klingt nicht ganz passend, oder?) Aber ist die Idee nicht genial? Ereignisse, Personen, Gesichter, Szenen – alles würde sich im Moment seines Geschehens entrollen. Es wäre etwas Neues, Revolutionäres – ich könnte mir damit einen Namen machen und mir für immer einen Platz im Pantheon der Maler …
Du wirst verstehen, meine liebe Paggli-wallah, weshalb in meinem Kopf ein solcher Aufruhr tobte, dass ich nichts anderes mehr wahrnahm, bis ich vor unserem Gastgeber Punhyqua stand.
Glaube nun aber nicht, ich wäre gänzlich unvorbereitet auf die Begegnung gewesen: In den Tagen davor hatte ich einiges darangesetzt, mich über diesen Magnaten kundig zu machen. Seine Familie, so hatte mir Zadig Bey erzählt, ist seit Jahrhunderten in Kanton geschäftlich tätig, und einer seiner Vorfahren war Mitte des vorigen Jahrhunderts Mitbegründer der Cohong-Gilde. Sie stammen jedoch nicht aus der Provinz Kanton – sondern aus Fujian, einer anderen Meeresprovinz, in welcher der Hafen Amoy liegt – , und obgleich sie schon so lange in der Stadt ansässig sind, halten sie gewissenhaft an vielen Sitten und Gebräuchen ihrer Ahnen fest. Heute sind sie eine der reichsten Cohong-Familien; Punhyqua bekleidet den Rang eines Mandarins und ist berechtigt, bestimmte Rangknöpfe an seinem Hut zu tragen. Es heißt, er sei ein großer Genießer mit einem umfangreichen Harem von Ehefrauen und Konkubinen und auch ein für seine Festmähler berühmter Feinschmecker.
Als ich das hörte, fragte ich mich, ob Punhyqua nicht ein wenig unseren Nabobs in Kalkutta gleiche und unerträglich hochnäsig und überheblich sei. Aber ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen: Er ist ein großväterlich wirkender Mann mit einem freundlichen Augenzwinkern und ohne auch nur einen Funken Arroganz. Als wir ankamen, hatte er es sich in einem luftigen Pavillon mit Fenstern aus blauem und weißem Glas bequem gemacht. Er war mit einer wattierten Jacke und einem Gewand aus einfarbigem Baumwollstoff höchst schlicht gekleidet und lag auf einer Art Diwan, neben sich einen kleinen Teetisch. Er begrüßte uns aufs Gastfreundlichste und erkundigte sich eingehend nach Lamqua und nach Jacquas Familie. Dann fragte er nach Mr. Chinnery, den er gut kennt, da er sich von ihm hat porträtieren lassen. Als ich meine Neugier auf dieses Porträt bekundete, das mir wie so viele von Mr. Chinnerys chinesischen Gemälden nicht bekannt war, ließ er es aus seinem Haus holen – und es erwies sich als eines der schönsten Werke meines Onkels, in seinem erhabenen Stil ausgeführt, mit vielen Tupfern und pastosen Pinselstrichen.
Erst nachdem diese Präliminarien absolviert waren, zeigte ich ihm die Kamelienbilder – und Du wärst vor Freude außer Dir gewesen, liebe Paggli, hättest Du seine Reaktion gesehen, denn so wie seine Miene sich aufhellte, konnte kein Zweifel daran bestehen, dass er etwas wiedererkannte. Augenblicklich rief er einen Bediensteten herbei und schickte ihn im Laufschritt die gewundenen Pfade entlang. Ich war mir sicher, dass der Mann eine eingetopfte Kamelie bringen und unserer Suche damit ein Ende bereiten würde. Doch nein! Er kam mit einer Seidenrolle zurück, auf deren Innenseite ein Bild erschien, das stark dem von mir mitgebrachten glich – die Blumen waren zwar etwas anders angeordnet, was die Komposition leicht veränderte, aber selbst für mein ungeübtes Auge war es offensichtlich, dass die Blüten derselben Varietät angehörten. Was Farbgebung, Pinselführung und Papier anbelangte, so legte die Ähnlichkeit der beiden Bilder nahe, dass sie von derselben Hand und um dieselbe Zeit gemalt worden waren.
Jetzt sehe ich Dich vor mir, meine liebe Paggli-mem, wie Du Dich mit gefurchter Stirn und angehaltenem Atem fragst: Und wessen Hand war das?
Leider muss ich Dir sagen, dass Du sogleich enttäuscht sein wirst …
… denn Punhyqua wusste nicht, wer der Künstler war. Er konnte sich nur noch erinnern, dass es ein junger Maler aus Kanton war, der jedoch bei einem Engländer in
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