Der rauchblaue Fluss (German Edition)
sind und beim Einsteigen heftig schwanken. Um nicht ins Wasser zu fallen, musste ich mich an einem der Mädchen festhalten. Weit davon entfernt, empört zu sein, stieß sie ein kreischendes Lachen aus und sagte: »Na, na! Frühmorgen nix machen so. Mandarin sehen, mich hauen. Bisschen warten. Nacht kommen, Mann nix kann sehen!« Lachsalven folgten, und die beiden fuhren fort, mich aufs Schamloseste zu necken – und während der ganzen Zeit kreiselte unser kleines Boot durch die schwimmende Stadt, umgeben von Teebooten, Reisbooten und Sampans, die so vertäut waren, dass zwischen ihnen Straßen und Gassen entstanden sind.
Wir schlängelten uns durch diese Wasserwege und gelangten schließlich in die Fahrrinne, die in der Mitte des Flusses für den Durchgangsverkehr freigehalten wird: Plötzlich trieben wir an schwerfälligen Lastkähnen und riesigen, hoch mit Bambus beladenen Dschunken vorbei. Ein Zusammenstoß schien unvermeidlich, und ich klammerte mich so fest an den Rand des Coracle, dass meine Knöchel sich totenbleich verfärbten – unsere Ruderinnen aber schienen völlig unempfindlich gegen die Gefahren ringsumher und fächelten sich während des Ruderns und Steuerns sogar hin und wieder Kühlung zu.
Honam liegt Kanton gegenüber auf der anderen Seite des Flusses. Ich glaube, ich habe Dir schon einmal von der Insel erzählt; sie erstreckt sich über eine beträchtliche Länge – sechzehn Meilen sind es von einem Ende bis zum anderen. Jacqua zufolge meinen manche Leute, die Insel sollte nicht Honam heißen, sondern Honan, nach einer anderen chinesischen Provinz. Wie bei allem hier gibt es auch dazu eine komplizierte Geschichte, von einem Mandarin, der Kiefern aus Honan auf der Insel pflanzte und dadurch bewirkte, dass es dort schneite. Das klingt höchst unwahrscheinlich – aber vielleicht soll die Geschichte nur den Kontrast zwischen den beiden Ufern des Flusses hervorheben, der in der Tat so markant ist, dass sie ohne Weiteres verschiedenen Provinzen angehören könnten. Das Nordufer, an dem Kanton liegt, ist so dicht bevölkert, wie man es sich nur vorstellen kann, mit Häusern, Festungswällen, Stadtvierteln und Ansiedlungen, die sich meilenweit hinziehen; Honam dagegen ist wie ein großer Park, grün und baumreich, von mehreren kleinen Wasserläufen durchzogen, an deren Ufern sich Klöster, Gärtnereien, Obstplantagen, Pagoden und malerische kleine Dörfer drängen.
Unser Ziel lag tief im Innern der Insel, und um dorthin zu gelangen, mussten wir einem mäandernden kleinen Flusslauf folgen. Er führte uns durch Dschungelgelände an einen Landungssteg, der aus dem sumpfigen Ufer ragte – ein gottverlassener Ort, an dem weit und breit keine menschliche Behausung zu sehen war. Doch genau hier mussten wir an Land gehen und einem gewundenen Pfad ins bewaldete Inselinnere folgen. Schließlich kamen wir an eine wellenförmige Mauer, die sich bis in weite Ferne erstreckte. Nur ein einziges Tor war zu sehen, kreisrund wie der Vollmond. Davor gruppierten sich fedrige Kiefern und ganz und gar fantastische Felsblöcke: Auf den ersten Blick konnte man sie für Ameisenhügel halten, so viele Löcher, Mulden und Spalten hatten sie, aber sie waren grau, und nicht Insekten haben sie geformt, sondern die Wirkung des Wassers.
Das Tor war verschlossen, und während wir darauf warteten, eingelassen zu werden, erfuhr ich von Jacqua, dass Punhyquas Anwesen als ein schönes Beispiel südchinesischer Gartengestaltung gilt. Du kannst Dir vorstellen, liebe Paggli, mit welch gespannter Erwartung ich das runde Tor durchschritt – und tatsächlich war es, als hätte ich ein ganz eigenes Reich betreten, einen Ort üppigster Fantasie: Es gab dort gewundene, von Buckelbrücken überspannte Bäche, Seen mit Inseln, auf denen elegante, zerbrechlich wirkende kleine Follys standen, es gab Hallen und Pavillons von vielerlei Größe – einige boten hundert Menschen Platz, in anderen konnte nur eine einzige Person sitzen. Auch die Bäume waren von unglaublicher Vielfalt, manche hoch und mächtig, stolz und aufrecht emporstrebend, andere klein und verkrüppelt, die Äste so ausgebildet, als sollten sie das Wehen des Windes verbildlichen. Bei jeder Wegbiegung verblüffte und entzückte mich eine neue Perspektive: Es war, als hätte man den Boden selbst geformt und gekrümmt, um das Auge zu täuschen.
Plötzlich begriff ich, warum chinesische Künstler Landschaften auf Rollen malen: Von einem Garten wie diesem sähe man nichts, würde man
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